OCR
zur Operationszone erklärt. De facto war es so selbständig wie das Protektorat Böhmen und Mähren. Noch am selben Tag sah ich in Lyon die deutsche Wehrmacht in dichten motorisierten Kolonnen heranrollen. Noch am selben Abend pinselten unsere Leute auf die hohen Böschungen der Rhöne, die Lyon durchfließt, mit riesigen Buchstaben Anti-Nazilosungen wie „Hitlers Tod ist Friede“ und ähnliches. Diese Ereignisse, auf mich bezogen: Ich brauchte nicht mehr über die Demarkationslinie nach Nordfrankreich geschleust zu werden. Die deutsche Wehrmacht war zu mir gekommen. Auch das Zusammenziehen mit Anni nahm konkretere Formen an, da das jüdische Kinderheim beschleunigt aufgelöst werden mußte. Mit Hilfe von Leuten, die in der Sécours National!” (Nationalhilfe) arbeiteten, konnten die Kinder bei französischen Familien untergebracht werden. Diese Organisation war nach dem Muster der deutschen Winterhilfe aufgebaut. Viele brave Leute in dieser Organisation konnten aber auf diese Weise vielen Verfolgten und Bedrohten helfen. Annis Kurierdienst ging weiter. Es wurde immer gefährlicher, da überall und unvermutet gemischte deutsch-französische Kontrollen auftauchten. Einmal wurde sie von einem Kontrollor gestellt. Als sie den Herrschaften wahrheitsgemäß erzählte, sie hätte noch 16 km von der Bahnstation zum Heim zu gehen, ließ man sie voll Mitleid laufen, ohne das Kofferl zu durchstöbern. Ein hübsches Mädchen tut sich eben auch in so einer Situation leichter. Einmal schlief sie erschöpft in der Bahn ein, wachte auf und der Koffer war weg — gestohlen. Der arme Dieb, kann man nur sagen, wenn ihn damals die Kontrolle erwischt hat, das hat ihn möglicherweise das Leben gekostet. Auch Max tauchte in Lyon auf. Lore war inzwischen gestorben. Die rumänische Staatsbürgerschaft war seit der Besetzung kein Schutz mehr. Es gab nun eine Reihe christlicher Glaubensgemeinschaften, die es ihren Angehörigen zur Pflicht machten, verfolgten Juden Unterschlupf zu gewähren oder zu verschaffen. Max lernte so den Schweizer protestantischen Pfarrer Dupury (hoffentlich schreibe ich ihn richtig)'”* und seine Gemeinde kennen. Sie verschafften ihm falsche Papiere und eine Unterkunft. Ich war einmal bei einer sogenannten privaten Zusammenkunft des Pfarrers dabei, wo er den Anwesenden erklärte, es gebe in so einer Situation nur eine Autorität, nämlich Christus, und dementsprechend müsse man sich verhalten. Aber auch bei seinen öffentlichen Predigten hielt er sich nicht zurück, und so wurde er während eines Gottesdiensts von der Gestapo verhaftet und in der berüchtigten Festung Montluc'” eingesperrt. Nur dem Umstand, daß er Schweizer Staatsbürger war, hatte er es zu verdanken, daß er mit dem Leben davonkam. Mein Job hatte sich vorläufig nicht verändert, im Gegenteil, es war mehr zu tun, da durch die Besetzung Südfrankreichs dieses aus einem Hinterland zu einer Kriegszone geworden war, nicht nur für die deutsche Wehrmacht, sondern logischerweise auch für die Widerstandsbewegung. Auch für den SD (deutscher Sicherheitsdienst)'” mit seinem Unterdrückungsapparat, unterstützt wie überall in den besetzen Ländern von den einheimischen faschistischen Milizen, deren einfache Mitglieder in der Unterwelt rekrutiert wurden, wurde Lyon zur Hauptstadt Südfrankreichs. Auf der anderen Seite wurden die größten Anstrengungen unternommen, unter der Führung De Gaulles alle Widerstandsgruppen und Organisationen zu einigen. Wir selbst, die KPÖ-Emigrantenorganisation, bildeten nun den Kern einer 42 ZWISCHENWELT österreichischen Freiheitsfront!” für ein freies, unabhängiges und demokratisches Österreich. Auf der Mitgliedskarte, die wir nach der Befreiung Frankreichs erhielten, standen die wesentlichsten Sätze der Gründungserklärung: „Mit Gründung der österreichischen Freiheitsfront (Front National Autrichien) haben wir geschworen, weder Mühe noch Opfer zu scheuen und mit Leib und Seele für die Einheit aller österreichischen Patrioten zu arbeiten im Kampf für ein freies und unabhängiges Österreich.“ Diese Organisation war daher für alle österreichischen Patrioten offen, die bereit waren, für das Wiedererstehen Österreichs zu kämpfen. Wir selbst betrachteten diesen Kampf als Hauptaufgabe, um nicht zu sagen als alleinige Aufgabe. Wir betrachteten uns als Soldaten dieser Weltfront gegen Hitlerdeutschland. Jeder Erfolg, jeder Sieg dieser Weltfront war für uns auch ein Sieg für Österreich, und, warum sollte man das nicht auch sagen, ein Schritt näher zu unserer Rückkehr in die Heimat. Wir waren mit unserer Organisation in der französischen Widerstandsbewegung integriert und wurden mit dem Kürzel (die Franzosen sind fanatische Anhänger von Kürzeln) TA (Travail antiallemand — antideutsche Arbeit)!” geführt. Eine Tätigkeit, die hoch eingeschätzt wurde. Und so hat eben jedes Ding zwei Seiten. Je ärger die braune Unterdrückungsmaschinerie um sich schlug, desto mehr spürten wir die Solidarität der französischen Bevölkerung. Ich glaube, nur diese Solidarität machte uns fähig, im Widerstand die harten Arbeiten durchzuführen, die man im deutschen Wehrmachtsjargon „Himmelfahrtskommando“ nannte. Entscheidend aber, wie für alle im besetzten Europa, war der Sieg von Stalingrad. Nun wußten wir alle, daß das der Anfang vom Ende des braunen Terrors sei. Überall tauchten auf den Wänden und Mauern das Wort „Stalingrad“ auf und das Datum „1918“, das die Besatzungssoldaten an das Ende des Ersten Weltkrieges erinnern sollte. Daß das alles noch so lange dauern würde, mit all dem Hunger, Elend, Not und vor allem den wahnsinnig vielen Opfern, ahnten wir zum Glück nicht. Dolmetscher im Fliegerhorst Lyon-Bron Der Winter 1942/43 zog vorbei. Man fror und hungerte, obwohl wir einen talentierten Zeichner hatten, der Lebensmittelkarten auf höhere Einheiten fälschte, und jeden Abend stellte man mit Genugtuung fest, daß man noch am Leben sei. Die Terrorherrschaft des SD wurde in dem Maße ärger, als sie merkten, daß die Bevölkerung sie mit Haß und Verachtung umgab und sie sich nicht einmal auf die Leute, die mit ihnen zusammenarbeiteten, verlassen konnten. Ich glaube, es ging den meisten anderen auch nicht viel anders als mir. Die Sorge, den Hunger halbwegs zu stillen, beschäftigte einen mehr als die Todesgefahr. Wenn man etwas in der Hinsicht befürchtete, dann waren es die Stunden oder Tage davor bei der deutschen Polizei: Würde man trotz Folter standhaft genug sein, das wenige, das man wußte, nicht zu verraten? Man schrieb den März. Für mich begann wieder ein neuer Lebensabschnitt. Annis Arbeit in und mit dem Kinderheim war endgültig zu Ende. Wir waren nun, wie die Franzosen sagten, marie par la resistance (verheiratet durch die Widerstandsbewegung). Wir heirateten nicht, trotzdem wir im Krieg waren, sondern vielleicht gerade auch deswegen. Man hatte fast irgendwie das Gefühl, die Urform der Ehe, begrenzte Trutz- und Schutzgemeinschaft, in diesem