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Werke: Werke aus den Bereichen Rechtswissenschaften, Gesellschaftspolitik, ein Band zum Tod Kronprinz Rudolfs und Mary Vetseras in Mayerling; auch vier Lieder für Gesang und Klavier, komponiert von Josef Marx'“’, weisen Frisch als Texter aus. Zum Text Die Manuskripte Alfred Frischs im Archiv der TKG wurden von seiner Witwe Vera Frisch 1992 an Konstantin Kaiser übergeben. Die Typoskripte stellen vermutlich eine Rohfassung dar; Konstantin Kaiser vermutet, sie seien von Vera Frisch abgetippt (von Frischs angeblich für andere unlesbarer Handschrift), dies könnte zu Fehlern geführt haben, da für Vera Frisch Deutsch nicht die Schulsprache war. Vermutlich entstanden die Aufzeichnungen in den 1970er Jahren, auch wenn Frisch sie als tagebuchartig-zeitgenössisch darstellt, indem er angibt, den Text direkt in Lyon zu verfassen. Frisch schrieb auch einen längeren Text über seine Zeit in Frankreich: Das schon bearbeitete Typoskript mit dem Titel Die anderen mehr als 100 Tage Frankreichs und die Blindschleiche im Bestand der TKG umfasst fünfzig Seiten, eine Veröffentlichung des Texts im Verlag der TKG ist geplant. Frisch verfasste seine Erinnerungen zu einer Zeit, in der das Interesse an Exil-Schicksalen äußerst gering war und wenig Aussichten auf eine Publikation bestanden, die ursprünglich seine Intention war. Text 2. Juli 1923 (Tod des Vaters)! 7. Mai 1942 (Tod der Mutter)'*$ 14. November 1906 (Geburt des Bruders, verhungert in Köszeg 19 45)! Wenn ich in der Nacht wach liege, denke ich oft, daß ich meine Mutter und meinen Bruder nicht allein hätte lassen dürfen. Karl Kraus hat über Morde an Arbeitern, Juden, Zigeunern und anderen in Deutschland vor seinem Tode nichts veröffentlichen lassen. Das fertige Buch'°’ war auch mir nicht bekannt. Es sollte niemand gefährdet werden. Hätte ich doch „Mein Kampf“ genauer gelesen, vielleicht hätte ich wie Hilde Spiel'’' gehandelt. Meine Drei- bzw. Vierspaltung als Jurist, Germanist, Lyriker und illegal politisch Tatiger war zu einer Vielfalt angewachsen. Nach dem 12. Februar 1934 arbeitete ich, aus Bulgarien und der Türkei zurückgekehrt, mit anderen illegal in der Reichsratsstraße, getarnt als Individualpsychologe.'”” Die Tochter von Julius Deutsch"? und Friedl Klein'’‘, der manchmal Harmonika spielte, Philipp und Margot Rieger!” und manche andere waren unsere Mitarbeiter. Wir tätigten auch in anderen Bezirken vor Arbeitern Lageberichte und zogen Schlußfolgerungen daraus; außerdem gab es die „Rote Fahne“! und ähnliches. Man erinnerte sich der großen Tradition meines Vaters aus der Habsburger-Zeit'’”. Ich wurde Präsident eines ukrainischen Vereines'°®, der in der Bankgasse Nr. 8 (Concordia)! tagte. Da konnte ich meine Gedichte vorlesen und nicht einmal ohne Erfolg. Das hieß aber andererseits, sowohl bei der Schuschnigg-Polizei'® als auch bei den Nazis besonders notiert zu werden. Nunmehr liege ich in Lyon noch vor meiner Abreise nach Chambon-sur- Lignon'*! bei Madame Veille hoch oben im Croix 46 ZWISCHENWELT Rousse’. Meine Mutter hatte schon vor der Jahreswende 1939/40 unsere Wohnung in Wien 6., Mariahilferstr. 19 verlassen miissen. Man hat sie in ein Zimmer einer Wohnung in der Marc Aurelstr. Nr. 5'% gesteckt. Als ich das erfuhr, sah ich meinen Vater vor mir, wie er mit einem Finger im Musikzimmer in der Mezzaninwohnung Mariahilferstr. 19 auf dem Bösendorferflügel Kienzl gespielt hat: „Selig sind, die Verfolgung leiden“.!* Wie sollte ich meine Mutter und meinen Bruder zu mir nach Frankreich bringen?! Ich hielt Vorträge bei französischen Studenten über Heine, Goethe und andere Dichter, das half beim Entree. Ich selbst war mittellos und verdiente mir das Essen durch Schwerarbeit am Rhöneufer. Ich wagte nicht, dies alles meiner Mutter oder meinem Bruder zu schreiben. Plötzlich kam die „Waldseekarte“ meiner Mutter. Diese Karte, was bedeutete sie?! Man sah auf der Bildseite einen schönen See, umgeben von einem lieblichen Wald. Später erfuhr ich, daß die Deportierten solche Karten an ihre Verwandten schreiben mußten, um sie dadurch zu täuschen. Eine besondere Art der Quälerei. Als Text war lediglich zugelassen: „Ich bin hier gut angekommen, es geht mir gut.“ Im Jänner 1942 wurde am Wannsee ein Programm konzipiert, nach welchem sämtliche Juden in Europa, sei es durch Vergasung mit Cyklon B, sei es durch Massenerschießungen in Gräben hinein, durch Einsatzgruppen, vernichtet werden sollten. Dieser Ermordung war ich durch meine plötzliche Abreise aus Wien am 1. August 1938, ohne daß ich das damals verstanden hatte, durch glücklichen Zufall entkommen. Ich hatte in Wien einen Freund gehabt. Ebenfalls knapp vor der Rechtsanwaltsprüfung. Dieser Freund hatte schr reiche Eltern. Er liebte ein armes Mädchen. Das wollten die Eltern nicht. Ich hatte also jedesmal, wenn er mit der Seinen einen Abend verbrachte, bei Nachfrage festzustellen, daß wir den Abend bei gemeinsamen wichtigen Gesprächen verbracht hatten. Dr. F.'% war schon nach Paris abgereist. Er hatte mich aber vorher einer Sekretärin der französischen Botschaft in Wien bestens empfohlen. Die Sekretärin rief den „Nächsten“ für ein eventuelles Visum nach Frankreich auf. Ich war es. „Also Sie sind das?!“ sagte sie mit prüfendem Blick. Zu meinem Erstaunen bekam ich ein gültiges Visum nach Frankreich. So kam ich das zweite Mal auf den Westbahnhof. Das erste Mal verabschiedete ich meine Braut, das Kindermädchen Anni, dem ich einen Posten bei einem amerikanischen Journalisten verschafft hatte, das zweite Mal fuhr ich selbst. Bei Strassburg-Kehl ging es über die französische Grenze mit 10 Mark in der Tasche. In Paris konnte ich nicht bleiben, weil ich bei einem elsässischen Rechtsanwalt anderen Flüchtlingen nicht schweres Geld für die benötigten Visa abnehmen wollte. Auf der Präfektur!“ erfuhr ich, daß ich nicht in Paris bleiben durfte. Ich sollte mir einen Ort, in dem ich in Frankreich leben wollte, aussuchen. Ich wählte Montdidier. In einem Eisenbahnwaggon hatte dort die Kapitulation der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg begonnen. '*” Schnell freundete ich mich mit dem Gemeindesekretär an, er war wie ich Sozialist. Ich fuhr täglich illegal, mit seinem Wissen, nach Paris und zurück. Dort gab es einen Freund, mit Namen Morawsky, ein Sachse, der seinen Kaffee ohne Zucker trank. Er war immer für irgendeinen Verdienst unterwegs, damals bei der florierenden Kürschnerbranche. Gleichmann hieß der Budapester Fabrikant'*%, der das „tönende Fahrradschloß“ in seiner Fabrik in Budapest laut schriftlicher Mitteilung an mich völlig sicher für eine Serienproduktion als Modell fertiggestellt hatte. Wenn ein Fabrikant so viel Geld „hineinsteckte“, wird bei Serienproduktion schon ein bißchen Geld für die Familie Frisch herausschauen.