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Maximilian K.'® hatte sein Wort gebrochen. Er hätte meinem Bruder ein Visum nach Südamerika beschaffen müssen. Er war jetzt Millionär in Südamerika.'”° Mein Bruder erhielt kein Visum. Mir schickte er einmal einen lächerlich geringen Betrag, den ich am liebsten in die Seine geworfen hätte. Ich erinnere mich: Dr. Maximilian K. war bereits abgereist. Ich war damals bei ihm als Konzipient eingetragen. Zwei Gestapomänner, von dem Dienstmädchen des Dr. K. gerufen, haben mich in der Kanzlei Dr. K. Tuchlauben Nr. 7 verhaftet. Ein Österreicher und ein Berliner. Bevor mich noch der brutalere Österreicher niederschlagen konnte, sagte ich: „Ich sitze hier im Auftrag des Rechtsanwaltes Dr. Speckl'”'. Dr. Speckl ist mit der Gestapo in Verbindung. Rufen sie ihn an.“ Der Berliner tat es. Zufällig erreichte er den Dr. Speckl, der ihm sagte: „Dr. Frisch muß zur Arbeit in der Kanzlei bleiben, ich brauch‘ ihn zur Abwicklung der Akte.“ So entkam ich dieser Verhaftung. Klar war, daß ich schnellstens ins Ausland zu verschwinden hatte. Mit Morawsky liefich in ganz Paris herum, dann fand ich plötzlich eine Fabrik für das „tönende Fahrradschloß“. Gleichmann kam tatsächlich mit seinem Serienmodell. Wir sagten uns in der Fabrik an. Guten Mutes fuhr ich mit Gleichmann in diese Fabrik. Bei der Vorführung durchschnitt Gleichmann den Gummischlauch, der das hintere Rad absperrte. Bei diesem Durchschneiden hätte der Warnrufertönen müssen. In diesem entscheidenden Moment bei dieser einmaligen Vorführung versagte das Modell. Dazu kam noch, daß ich aus New York einen Brief meiner Braut Anni erhielt, sie habe einen Amerikaner geheiratet. Ich fuhr weiter nach Paris und wieder zurück nach Montdidier und ließ mir nichts anmerken. Hier kommt es zu einem Bruch des erzählerischen Texts von Alfred Frischs Notizen und es beginnt ein Teil der Reflexion. Es ist immer ein dünner Faden, der entweder reißt, oder doch nicht zum Reißen bereit ist. Dieser dünne Faden reißt dann nicht, wenn man bereit ist, sich nach vorne zu verteidigen und nicht davonläuft nach hinten. Nur so kann man unter Umständen am Leben bleiben. Was schrieb Martin Buber (Dialogisches Prinzip) „Mit einer Situation werden wir nicht fertig. Darauf haben wir verzichten müssen ...“ „Ein neugeschaffenes Weltkonkretum ist uns in die Arme gelegt worden. Wir verantworten es. Ein Hund hat dich angesehen. Du verantwortest seinen Blick. Ein Kind hat deine Hand ergriffen. Du verantwortest seine Berührung. Eine Menschenschar regt sich um dich. Du verantwortest ihre Not.“ Mutter, müssen wir wieder rennen, rennen wie damals während der anderen 100 Tage von Frankreich? Mutter, wer sind diese Monster, die nach uns ihre Eisklotzhände ausstrecken?! Müssen wir vor ihnen erstarren? Mutter, gibt es kein Sichfortbewegen in die Rettung?! Die Mutter antwortet: Ja, es wird wieder geschaufelt. Wie Haufen gelbtrockener Blätter wird eingeschaufelt in die wieder rollenden Wägen. „Die Welt bleibt dunkel. Wir sind unglückliche Tiere. Aber ich habe plötzlich entdeckt, daß die Entfremdung, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Unterernährung ...“ (die Vernichtungsrüstung, das Verhungern von Millionen) ...“ das metaphysische Übel auf den zweiten Platz verweisen. “!7? So schrieb der späte Sartre. Fürchtet euch dennoch nicht! Plötzlich ruft das Kind der Mutter zu: Ich sche das Ufer! Der Tod der Mutter in Lodz am 7. Mai 1942 Der höchstplazierte Mann im „Judenrat“ war in Lodz Rumkovsky.'”* Doppelstufen führen in seinen Einspännerwagen hinauf zum einzigen gepolsterten Sitz. Das Stacheldraht-Ghertto ist von der Stadt völlig abgetrennt. Diejenigen, die schon zum Abtransport in Vernichtungslager vorbereitet werden, halten es oft aus Angst und vor Hunger nicht mehr aus. Sie taumeln hinein in den Stacheldraht. Von Wachtürmen oder von anderswo werden sie erschossen. Meine Mutter ist noch in der Stadt, noch außerhalb. Sie weiß aber, daß ihr eigener Abtransport knapp bevorsteht. Rumko vsky: „Ich Rumkovsky werde euch alle vor dem Ärgsten bewahren. Stört mich nicht. Sprecht mich nicht an. Mein Werk ist ja nur für euch.“ Die Steinbögen gewölbt über die Durchgänge, die zum Stadtplatz hinführen, bröckeln ab. Auf dem Pflaster rutscht oder stolpert man. Zwischen den Schuhsohlen hat meine Mutter Zyankali versteckt. Noch Hilflosere als sie schleppen sich an ihr vorbei. Sie können keine Entscheidungen treffen. Meine Mutter will noch ihren Söhnen in deren Schlaf erscheinen. Noch leiblich vor sie hintreten im Traume. Für mich begann da in der Nacht Wettlaufen mit dem Herzschlag meiner Mutter. Sie hatte ja als Krankheit oft Herzschnellauf'” gehabt, das begann unmittelbar nach dem Tode meines Vaters am 2.7.1923; — aber sie kam nicht leiblich zu mir. Sie kam als Skelett. Nach vorne neigte sie sich. Ich erkannte sie. Wasserrüben und Wasser hatte ich im Magen. Im Herzen war sie, die Mutter. Als Skelett mit nur für mich kenntlichem Totenkopf. Ich habe einen Großoheim. Er hieß Sonnenschein und war der Vater'”” der mir unbekannt gebliebenen Mutter meines Vaters. Ich habe ihn ein einziges Mal, und zwar in Marienbad”, erlebt. Er sagte: „Kind, lies die Bibel, das ist ein noch schönerer Garten als du die Landschaft hier auf der Kleinseite in Marienbad erlebst. Du kannst immer etwas daraus lernen. Lies z.B. im Exodus die Gesetze über die Sklaven.“'”?” Mein Urgroßonkel war kein Nationalist, weder deutscher noch jüdischer. Hitler hat den Deutschen das letzte Minimum an Menschlichkeit in höllisches Martern von Nichtdeutschen gewandelt. Er war der Gott, wenn es noch einen Gott gab, so konnte er nur der Schatten Hitlers sein. Alles fließt ins Entgegengesetzte. „Heil Hitler“. Die Moldau fließt nicht von Budweis nach Prag, von Prag nach Budejovice Hießt sie!"?° Von Rabbi Löw"?! geschickt kommt der Golem!®? aus der Wirrnis der Steine auf dem jüdischen Friedhof hervor, ein ungeheurer, gerade belebter Koloß. Er schreitet eisern in Richtung Karlsbrücke. Da hebt sich ein Wirbelsturm von der Stärke der karibischen Tornados. Die Wellen bäumen sich hunderte Meter hoch empor; schon ist der Hl. Nepomuk'®, Karl IV.'* u.a. nicht mehr zu sehen. Ganz Prag versinkt in die Tiefe der schäumenden Wogen. Nur rechts oben ragt aus dem Wasser empor der Hradschin'®°. Der Golem, ohne abzusinken, schreitet wie auf einen Sinai hinauf bis zur höchsten Spitze der Sturmwogen. Wer denkt da nicht an den Tiberias-See!**! Die Fauste stößt er eisern vor sich her, er trifft sie alle. Noch ist er oberhalb. Dann erlischt auch in ihm die Kraft, er wird wieder bloße Statue. Sein Versinken steht nun unmittelbar bevor. Bald wird man die Kleinseite'®” und die Karlsbrücke wieder zu schauen bekommen. September 2020 47