OCR
noch in den Hautes-Pyr&nees im unbesetzten Teil Frankreichs. Als die alliierten Streitkräfte im November 1942 in Nordafrika landeten??, besetzte die deutsche Armee sofort ganz Frankreich. >? Damals hörte ich auf, mit Pierre Englisch zu sprechen, und die anderen benutzten auch so wenig Deutsch wie möglich. Mit uns zusammen wohnten fünf Österreicher: vier Männer, die in den Internationalen Brigaden gekämpft hatten, und der achtjährige George. Diesen hatte sein Vater zu uns bringen lassen, in der Hoffnung, er werde in einem kleinen Dorf oben in den Bergen sicher sein. Das war er allerdings nicht. Er wurde irgendwann deportiert, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.” Die Männer arbeiteten als Holzfäller. Sie stellten aus den Bäumen, die sie schlägerten, Holzkohle her. Holzkohle benutzte man als Ersatz für Benzin. Autos, die damit fuhren, konnte man an den kleinen Schornsteinen erkennen, aus denen Rauch aufstieg.’* Ich erklärte Mme F, dass ich auf Gaby warte und sie jeden Moment kommen müsse. Sie kannte Gaby ja, da diese ihr Pierre zur Betreuung anvertraut hatte und ihr seine Lebensmittelkarte und — noch wichtiger - seine Milchbezugs-Karte übergeben hatte. Und sie erhielt natürlich auch monatlich eine bestimmte Geldsumme. Wir warteten geduldig. Pierre klammerte sich immer wieder an mich. Mit der Zeit wurde Mme FE. gesprächiger und schließlich erzählte sie mir von ihren Sorgen. Sie hatte Probleme mit der Sozialversicherung, bei der man Rechnungen von Kinderärzten u.ä. einreichte. Ein Sozialarbeiter hatte sie aufgesucht, und sie hatte ihm Pierres Lebensmittel-Karte gezeigt, ausgestellt vom Bürgermeister von Lannemezan™“!, dem Ort in den Hautes-Pyrénées nicht weit von der spanischen Grenze, wo wir seinerzeit gelebt hatten. Pierres Geburtsurkunde hatte Mme E nicht bekommen; wir besaßen nur eine mit seinem richtigen Namen. Laut Lebensmittelkarte war Pierre in Lannemezan geboren. Die Sozialversicherung hatte an den Bürgermeister geschrieben und um Auskunft gebeten. Die Antwort war negativ: Es gebe keinen Eintrag im Geburtsregister für Pierre, und es sei auch keine Lebensmittelkarte für ihn ausgestellt worden. Sie hatten auch an Gaby geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Alldas erklärte Gabys Brief, den wir so verwirrend gefunden hatten. Er begann mit dem Satz: „Assurez-vous, mes amis“ (Beruhigt Euch, meine Freunde). Sie hatte wohl gehofft, wir würden verstehen, dass es Schwierigkeiten mit der Assurance Sociale, der Sozialversicherung, gab. Der Briefverkehr wurde überwacht, deshalb wagte sie nicht, offen zu schreiben. Wir hatten die Anspielung überhaupt nicht verstanden und nur verwirrend gefunden. Dann tat ich etwas, von dem ich instinktiv wusste, dass es falsch war. Dennoch meinte ich, es tun zu müssen. Ich ging zum Postamt und gab ein Telegramm an Gaby auf, adressiert an ihre Schule in den Hautes-Pyrénées, wo sie lebte und unterrichtete. Ich teilte ihr mit, dass ich auf sie wartete. Und wir warteten weiter. Zwei Stunden später traf eine Antwort ein, jedoch nicht von Gaby. Das Antwort-Telegramm erfüllte mich mit Angst und Schrecken. Es lautete: „Mlle Gaby F. ist unter der angegebenen Adresse nicht erreichbar, wir konnten Ihr Telegramm nicht zustellen.“ Als ich wieder bei Sinnen war, ging mir auf, dass jemand im Postamt, der mich kannte, mir eine Warnung zukommen lassen wollte. Mme F. gab den Kindern ihr Abendessen. Eins der Kinder war noch ein Baby im Himmelbettchen, die beiden anderen — Pierre und ein kleiner Bub von etwa 14 Monaten - saßen bei ihr am Tisch. Sie bekamen ein in Scheiben geschnittenes hartgekochtes Ei, gekochte Karotten und Erdäpfel, allerdings ohne Butter oder irgendeine Soße. In ihre Wassergläser goss sie etwas Rotwein, „nur damit es ein bisschen g Farbe bekommt“, versicherte sie mir. Die Kleinen schienen das „gefärbte Wasser“ schon gewöhnt zu sein, tranken es genüsslich und wurden lebhafter. „Wenn ich Speiseöl hätte, würde ich welches an das Gemüse geben“, beteuerte sie. Die Kinder schienen das Essen aber durchaus zu genießen. Ich sagte zu der Frau, dass g g ich jetzt gehen müsse und am nächsten Morgen zurückkommen würde. Pierre mochte gar nicht, dass ich ihn verließ. Monsieur T. war gerade eifrig damit beschäftigt, seinen Garten zu gießen; seit Tagen hatte es nicht geregnet. Ich sagte ihm, ich müsse unbedingt herausfinden, warum Gaby nicht gekommen sei, und berichtete ihm von der Sache mit der Sozialversicherung, von dem Telegramm und der Antwort darauf. Er schien schr besorgt, und die Falten in seiner Stirn wurden noch tiefer. Er war kein Mensch, der zu übereiltem Handeln neigte, er goss erst einmal weiter seinen Garten. Nach einigen Minuten entschied er, Gabys Schwester anzurufen. Sie und ihr Mann waren ebenfalls Lehrer, ihre Schule befand sich in einem Dorf nicht weit von dem, in dem Gaby unterrichtete. Sogleich ging er zum Postamt. Es hatte noch offen. Er meldete das Gespräch an, bekam jedoch keine Verbindung. Um sechs Uhr sperrte das Postamt. Mme T. servierte uns ein gutes Abendessen. Ich ging früh ins Bett, aber schlief unruhig. Als ich zum Frühstück herunterkam, war Monsieur T. bereits wieder unterwegs zum Postamt. Die deutsche Armee überwachte alle Fernsprechleitungen, was das Telefonieren schr erschwerte. Erst am frühen Nachmittag rief man Monsieur T. zum Telefonieren ins Postamt. Schon nach kurzer Zeit kam er zurück. Da wussten wir sofort, dass etwas Unerwartetes und Schreckliches passiert sein musste. Er hatte mit Felix, Gabys Schwager, gesprochen: Gaby war vor zehn Tagen von der Gestapo verhaftet worden. Ich fühlte mich wie erschlagen. Was, wenn Gaby gefoltert und dazu gezwungen worden war zu reden, und sie unsere Adresse in Marseille und den Aufenthaltsort von Pierre preisgegeben hatte? Und warum hatte man sie verhaftet? Was war mit Andree?“, der anderen Lehrerin, und mit George geschehen? Was sollte ich jetzt am besten tun? Klar war, ich musste Pierre schützen, ihn holen und mit ihm auf der Stelle nach Marseille zurückkehren. Dort würde ich die nächsten Schritte entscheiden. Möglicherweise war auch Harry inzwischen verhaftet. Ich sagte zu Monsieur T.: „Ich gehe zu Mme FE, hole Pierre und verschwinde so schnell wie möglich.“ Das hielt auch er für das Klügste; er werde sich gleich nach dem Fahrplan erkundigen. Schnell zu Fuß war ich damals ohnehin, aber diesmal rannte ich. Als Pierre mich erblickte, begann er sein übliches Begrüßungsritual. Aber das durfte jetzt nicht lange dauern. Ich erklärte Mme E., dass die Umstände mich zwängen, sofort nach Hause zurückzukehren, und dass ich vorhätte, Pierre mitzunehmen. Sie sah mich traurig an und schüttelte den Kopf: „Es tut mir leid, aber das geht nicht. Mlle Gaby hat ihn bei mir in Obhut gegeben, nur sie kann ihn auch wieder abholen.“ Jetzt musste ich schnell überlegen und durfte auf keinen Fall in Panik geraten. Wie konnte ich diese einfache, aufrichtige Frau dazu bringen, mir Pierre zu überlassen? Vielleicht hätte Monsieur T. es erreicht — aber ich wollte so schnell fort wie irgend möglich. Wieder packte mich die Angst vor der Gestapo. Sie hatten Gaby verhaftet und jede Minute konnten sie auch in diesem kleinen ruhigen Dorf auftauchen. Mir wurde schwindlig, es schnürte mir die Kehle zu. Wie konnte ich Mme FE überzeugen? „Mme F“, sagte ich schließlich, „ich muss Ihnen etwas gestehen. September 2020 53