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In Wahrheit ist Pierre eigentlich mein Kind — er ist unehelich geboren, und meine Eltern wollten mir zuerst nicht helfen. Aber nun haben sie sich doch erbarmt.“ Eine bessere Erklärung hätte ich mir nicht ausdenken können. Sie schaute mich mit Tränen in den Augen an. „Ich wusste, dass er Ihr Kind ist. Allein schon, wie er sich verhielt, wenn er Sie erblickt hat!“ Sie war tief gerührt. Vielleicht hatte jemand, den sie liebte, Ähnliches erlebt. „Natürlich können Sie ihn mitnehmen. Wenn Mlle Gaby kommt, werde ich ihr alles erklären. Sie wird Verständnis haben. Jetzt ist mir auch klar geworden, warum es Probleme mit der Sozialversicherung gab.“ Sie holte Pierres Kinderwagen und packte seine Kleidung ein. Viel hatte er ja nicht, aber ich hatte noch einen neuen Wollpullover und Hosen mitgebracht. Sie gab mir auch die Lebensmittelkarte — die Ursache für all den Ärger mit der Sozialversicherung. In der Eile vergaß ich leider die Karte für die Milch. Die war in dem Geschäft hinterlegt, in dem Mme E. die tägliche Milch-Ration kaufte. Ja, sogar hier, in diesem kleinen Dorf, war die Milch rationiert, trotz der vielen Kühe. Die Bauern mussten jeden Tag eine bestimmte Menge Milch abliefern. Sie behielten die Milch aber viel lieber für sich, um Butter herzustellen, die sie für Tauschgeschäfte oder zum Verkauf auf dem Schwarzmarkt in den Städten verwenden konnten. Für ein paar Pfund Butter bekam man in der Stadt Lederschuhe mit Ledersohlen, und die waren schr begehrt, genauso wie auch andere Luxusartikel, z.B. Kaffee oder Kleidung. Nach der Niederlage der französischen Armee im Juni 1940 konnte man Lederschuhe mit Holzsohlen noch ohne Bezugsschein kaufen. Später wurden auch diese rationiert. In Schuhen mit Holzsohlen zu gehen war beschwerlich, sie klapperten laut und waren plump. Hatte man sich jedoch erst daran gewöhnt, waren sie ein durchaus brauchbarer Ersatz. Bald kam Monsieur. hinzu. Wir verabschiedeten uns von Mme FE Unter’ Tränen küsste sie mich und Pierre und versicherte mir noch einmal, dass ich mein Schicksal mit vielen unglücklichen jungen Frauen teile, und wie glücklich sie sei, dass meine Eltern mir verziehen hätten. Stoisch ertrug Pierre ihre Umarmung. Auch er hatte es eilig wegzukommen. Er hatte offensichtlich alles verstanden. Wir gingen zurück in das Haus unserer Gastgeber, schnappten uns die Tasche, die ich am Morgen gepackt hatte, und verabschiedeten uns von Mme T. und den drei kleinen Mädchen. Für unterwegs gab Mme T. uns zwei kleine Gläser selbstgemachte Marmelade, etwas Brot und Milch mit. Monsieur T. hatte im Fahrplan einen Zug in Richtung spanische Grenze gefunden. Dieser hielt jedoch nach etwa einer Viertelstunde in einem anderen Dorf an; ich konnte in einen Zug Richtung Toulouse umsteigen, von wo ich eine Verbindung nach Marseille hatte. Monsieur T. schien recht erleichtert, dass wir abreisten. Waren doch auch er und seine Familie in Gefahr, wenn die Gestapo mich suchen sollte. Es ging alles glatt. Einmal, gleich nach der Abfahrt kontrollierte ein Gendarm meinen Ausweis. Er sah ihn an, sah mich an und gab ihn mir wortlos zurück. In Toulouse mussten wir eine Stunde aufden Zug nach Marseille warten. Es begann, dunkel zu werden. Ich gab Pierre eine Scheibe Brot mit Marmelade und ein bisschen Milch. Er war still und zufrieden. Mit meinem Pullover als Kopfkissen schlief er rasch ein. Meine Gedanken waren auf Marseille konzentriert. Was war in meiner Abwesenheit geschehen? Im Abteil war Platz für sechs Personen - zwei gegenüberliegende Bänke mit harten Rückenlehnen - ungepolstert - dritte Klasse. Mit uns reisten ein etwa 18-jähriges Mädchen, das recht hübsch und furchtbar geschwätzig war, ihr gegenüber ein streng dreinblickender 54 ZWISCHENWELT Mann in schwarzem Anzug, der fast wie eine Uniform aussah. Der Mann trug Stiefel. Seiner Unterhaltung mit dem jungen Mädchen entnahm ich, dass er Mitglied des PPF (Parti Populair Frangais)?* war. Die PPF-Mitglieder waren weithin gefürchtet. Sie arbeiteten eng mit der Vichy-Miliz zusammen, und man wusste von ihnen, dass sie Leute bei der Polizei denunzierten. Das Madchen flirtete mit ihm, mich ignorierten die beiden zu meiner größten Zufriedenheit. Ich erlerne Fremdsprachen rasch und eigne mir ohne Schwierigkeiten ein großes Vokabular an, doch meine Aussprache verrät meistens das Englische als meine Muttersprache. Die übrigen Reisenden im Abteil waren schweigsam und widmeten sich bald ihrem mitgebrachten Proviant. Einer hatte, eingewickelt in eine weiße Serviette, ein gebratenes Hähnchen, das er langsam und wortlos aufaß, ohne sich um die neidischen Blicke der Mitreisenden zu scheren. Neben ihm saß eine ältere Dame, die sich recht bald eine dunkle Sonnenbrille aufsetzte und einschlief. Ab und zu schnarchte sie leise. Ich selbst nickte hin und wieder ein bisschen ein. Der PPF-Mann und das junge Mädchen diskutierten lebhaft über eine Reihe von Themen, angefangen von der schwierigen Versorgungslage mit Lebensmitteln bis hin zu der Frage, wann die Alliierten eine zweite Front errichten würden. Der Mann bezweifelte, dass eine zweite Front käme, und war überzeugt, dass der Sieg der Deutschen nahe bevorstünde. Jetzt, im Juni 1943, hätte es Deutschland nach dem Sieg über Frankreich im Juni 1940 nur mit einer Front zu tun, nämlich der gegen die Sowjetunion. Die Beschreibung einer weiteren Mitreisenden, die für den Fortgang der autobiographischen Erzählung nicht relevant ist, wurde hier weggelassen. Gegen sieben Uhr früh kamen wir in Marseille an. Pierre hatte die Nacht durchgeschlafen und wirkte ausgeruht. Ausweiskontrollen hatte es keine mehr gegeben. Ich setzte Pierre in seinen Sportwagen, stellte die eine Tasche auf seine Knie und trug die andere in der Hand (beide Taschen waren nicht schwer). Wir nahmen eine Straßenbahn zu Harrys Arbeitsstelle, der deutschen Marineverwaltung. Ich musste mich zuallererst vergewissern, dass er nicht verhaftet worden war. Ich wollte Pierre mit all meinen Kräften beschützen. Ich wusste, dass Harry normalerweise mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr; seine Arbeit begann um acht Uhr morgens. Ich setzte mich mit Pierre auf die Terrasse des Cafes direkt gegenüber dem Gebäude, in dem er arbeitete. Es war ein wunderschöner, wolkenloser Junimorgen mit blauem Himmel und klarer Luft. Ich bestellte einen Ersatzkaffee*“4 fiir mich und für Pierre Ersatz-Limonade?“, die er begeistert trank. Ich gab ihm eine Scheibe Brot mit Marmelade. Es schien ihm zu schmecken. Obwohl er nur wenig zu essen bekommen hatte, weinte er nicht. Er war glücklich, mit mir zusammen zu sein. Um zehn vor acht kam Harry auf dem Fahrrad daher. Mein Herz klopfte vor Aufregung und Erleichterung. Ich rief ihm etwas zu, er sprang von seinem Fahrrad und rannte zu uns. Pierre war überglücklich, ihn zu schen, und wieder atmete er heftig und umklammerte meine Hand. Ich erklärte Harry rasch die Lage. Was sollten wir tun? Möglicherweise war die Gestapo in diesem Augenblick in unserer Wohnung... Sollten wir es riskieren, nach Hause zu gehen? Harry sprang hinauf ins Büro und erklärte seinem Chef, dass ich mit unserem Kind vom Land zurückgekommen sei, dass es dem Kleinen schlecht gehe und wir ihn so schnell wie möglich zu einem Arzt bringen müssten. Wir überlegten ein paar Minuten, dann beschlossen wir, es zu wagen und heimzugehen.