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Das Fahrrad ließ Harry im Keller des Bürogebäudes zurück. Wir nahmen die Straßenbahn nach Pointe Rouge, wo wir jetzt unsere kleine Wohnung hatten — ganz in der Nähe des Mittelmeerstrandes. Oft hatte ich dort überwältigend schöne Sonnenuntergänge erlebt — wenn die Sonne wie ein gewaltiger Feuerball so nah ins Wasser eintauchte, dass man das Gefühl hatte, man könnte sie berühren, wenn man nur ein Stück hinaus übers Wasser schritt. Es tröstete mich, immer noch für Schönes empfänglich zu sein, trotz der schrecklichen und gefahrvollen Zeit, in der wir lebten. Die folgende, hier weggelassene von Irene Spiegel beschriebene Episode erschien unter dem Titel „Die Milchration. Eine Erinnnerung an Exil und Widerstand in Frankreich“ in der Übersetzung von Arno Reinfrank in ZW Nr. 1/2000, 5. 31-34, und ist dort nachzulesen. Unser nächster Wohnort war Le Redon”®, ein bisschen landeinwärts. In der Nähe lag ein großes Gut mit einem Schloss und wunderschönen Wiesen, Blumenbeeten und einem Areal mit vielen Bäumen - fast einem Wäldchen. Ich erfuhr bald, dass es der Gräfin Pastre” gehörte. Diese war meine letzte Patientin im Mai 1940 im Pariser amerikanischen Krankenhaus gewesen, kurz bevor die Hitler-Armee die Stadt besetzte. Ich besuchte die Gräfin und erzählte ihr, dass ich jetzt als Französin gelte. Ich bat sie, niemandem zu verraten, dass ich Amerikanerin sei. Das sagte die Gräfin selbstverständlich zu. Sie halfvielen Flüchtlingen, besonders Musikern, zum Beispiel Clara Haskil*“, der berühmten Pianistin, von der Charlie Chaplin sagte: „Ich kenne nur drei Genies: Einstein, Winston Churchill und Clara Haskil.“ Die Gräfin hatte in der letzten Zeit zugenommen, und ihr Hausarzt hatte ihr eine tägliche Hormonspritze verschrieben. Sie bat mich, ihr die Spritze zu geben und gleich mit der ersten zu beginnen. Das tat ich. Mehrere Wochen vergingen, das Leben wurde schon fast langweilig, als mich Harry eines Tages am frühen Morgen aufweckte; er stöhnte laut vor Schmerzen im rechten Unterleib. Diese ließen nicht nach. Um sieben hatte sich bereits eine Gruppe Neugieriger vor unserem Haus versammelt. Meine Nachbarin versprach, Dr. Swartz”® aufzusuchen und ihn zu bitten, so schnell wie möglich zu Harry zukommen. Dr. Swartz war der Hausarzt der Gräfin, sie hatte ihn mir empfohlen. Obwohl er Jude war, hatte er Marseille auch nach der deutschen Okkupation nicht verlassen. Er meinte, seine zahlreichen Patienten bräuchten ihn. Viele Ärzte waren weggegangen. All das erzählte mir die Gräfin, und ich hatte den Eindruck, sie tat ihr Bestes, dass ihm nichts geschah. Doch er erschien auch nach mehreren Stunden nicht. Später erfuhr ich, seine Ordination sei voll von Patienten gewesen, von denen viele sofort behandelt werden mussten. Meine Nachbarin suchte dann Dr. Dupont auf”, ihren Hausarzt, und der kam innerhalb einer Stunde. Seine Diagnose war: akute Blinddarmentzündung — Operation so schnell wie möglich. Er meinte, das Allgemeine Krankenhaus von Marseille sei überbelegt, viele Patienten warteten aufeine Operation. Schuld daran war unter anderem, dass die deutsche Marine ein großes Spital beschlagnahmt hatte. Dr. Dupont besaß ein Motorrad; er sagte zu mir: „Setzen Sie sich hinter mich!“ Ich war noch nie auf einem Motorrad gefahren, aber ich gehorchte und hielt mich an ihm fest. Er fuhr sehr schnell. Das nächste Telefon fanden wir in einer Apotheke. Er telefonierte etwazehn Minuten herum; schließlich gelang esihm, ein Bett in einem privaten Krankenhaus zu reservieren. Er bestellte außerdem einen Krankenwagen, der allerdings auch erst nach Stunden eintraf. In der Zwischenzeit kümmerte ich mich um Harry, zog Pierre an und machte ihm sein Frühstück. Ich wollte ihn eigentlich bei meiner Nachbarin lassen, aber die konnte ihn nicht nehmen. Ihre Tochter hatte zwei Tage zuvor ein Baby bekommen, sie musste jeden Tag in die Geburtsklinik gehen, um der Tochter saubere Windeln zu bringen und die schmutzigen zum Waschen nach Hause zu nehmen. So begleitete ich Harry zusammen mit Pierre ins Krankenhaus. Man legte ihn in ein Zweibettzimmer; der dienscthabende Arzt untersuchte ihn und bestätigte Dr. Duponts Diagnose. Es war jetzt 17 Uhr. Ein Patient für das zweite, freie Bett wurde für den nächsten Morgen erwartet. Bevor Harry aus dem Operationssaal zurückkehrte, erschien eine Krankenschwester und teilte mir mit, dass der Arzt, der die Operation durchgeführt hatte, mich sprechen wolle. Ich nahm Pierre mit. Der Arzt zeigte mir in einer Schale den Blinddarm: An einem Ende hatte bereits Wundbrand eingesetzt. Offenbar dachte der Arzt, wir seien Deutsche, und wollte sich gegen die Beschuldigung absichern, unnötig operiert zu haben. Harry erhielt ein Beruhigungsmittel und schlief rasch ein. Eine Krankenschwester brachte Pierre und mir ein Tablett mit Abendessen; wir freuten uns sehr darüber. Ich ließ Pierre ein bisschen im Raum herumgehen und die Beine strecken. Dann legte ich ihn in das zweite Bett und deckte ihn zu. Das Bett war nicht bezogen, aber auf der Matratze lag eine Tagesdecke. Er fiel sofort in tiefen Schlaf. Ich blieb wach und kümmerte mich um Harry. Am Morgen fuhr ich mit Pierre nach Hause. Ich wusch ihn, zog ihm frische Sachen an und schickte ihn zum Spielen vor das Haus. Nach dem Frühstück besuchten wir Madame Masset, die mit Mann, zehnjähriger Tochter Maggie und unverheirateter Schwester in der Nähe wohnte. Sie sagte zu, aufPierre aufzupassen, solange es notwendig war. Maggie und Pierre mochten einander. Ich gab Madame Masset Pierres Lebensmittelmarken für eine Woche und natürlich etwas Geld, Sachen zum Anziehen und dergleichen. Sie erwähnte, dass sie Arbeit suche; es fiel ihr schwer, sich über Wasser zu halten. Ihr Mann war Mechaniker, sein Lohn reichte nicht aus. Das kam für mich gerade zur rechten Zeit. Ich hatte meine Arbeit im Widerstand wegen Pierre weitgehend aufgeschoben. Natürlich half ich Harry, aber ich wollte gern aktiver werden. Ich sagte Madame Masset, dass ich eine Arbeit für sie hätte. Wenn sie Pierre ständig betreuen könne, käme das uns beiden zugute. Sie sagte sofort zu. Um halb zehn am Abend fuhr ich wieder ins Krankenhaus. Ich wollte vor Beginn der Ausgangssperre um 22 Uhr?! dort sein. Ich bat den Schaffner, mich vor dem Krankenhaus aussteigen zu lassen. Das versprach er mir auch. Schr viele ein- und aussteigende Fahrgäste verursachten eine Verspätung der Straßenbahn; als wir ankamen, hatte bereits die Ausgangssperre begonnen. Das Krankenhaus fand ich mit Glück sofort: Der Mond schien nicht, es war stockdunkel. Harry hatte jetzt schr schmerzhafte Blähungen. Ich bat die Krankenschwester, ihm eine Pituitrin-Injektion?°? zu geben, aber die hatten sie nicht vorrätig. Morgens um sieben fuhr ich nach Hause, frühstückte, schlief ein paar Stunden und kehrte zum Krankenhaus zurück. In dem anderen Bett lag jetzt ein junger Mann. Es tat Harry gut, sich mit jemandem unterhalten zu können, der auch Schmerzen hatte (er hatte eine kleinere, doch ebenfalls schmerzhafte Operation hinter sich). Ich wusch Harry mit einem Schwamm, wonach er sich sichtlich besser fühlte. Die diensthabende September 2020 55