OCR
Minuten, und in einer plötzlichen Anwandlung von Vertraulichkeit erzählte er stolz, dass er einmal bei Hitler zu Hause übernachtet habe, bevor dieser an die Macht kam. Zusätzlich zu meiner sonstigen Arbeit fuhr ich einmal in der Woche mit einem Lastwagen zu einer Wäscherei beim Alten Hafen, um schmutzige Bettwäsche hinzubringen. Ich passte immer genau auf, wenn der Mitarbeiter dort die Wäschestücke zählte. Einmal stellte ich ihm eine sachbezogene Frage, aber statt mit „oui“ auf Französisch antwortete er mit „yes“. Ich trug ein neues Kleid — schaute ihn an und sagte auf Französisch: „Ich sche, Ihnen gefällt mein neues Kleid mit dem Schottenmuster?“ Er schaute mich an, dann antwortete er: „Oui.“ Da hatte ich großes Glück, denn natürlich kannten die Angestellten in den Wäschereien am Hafen die verschiedenen Akzente der Matrosen aus aller Welt, die ihnen ihre Wäsche brachten, wenn sie für mehrere Tage im Hafen blieben. Aber ich hörte auf, in dem Lastwagen mitzufahren. Eines Tages saßen Mlle Spenner und ich in unserem Büro und warteten auf das Mittagessen, als ihre Tante auftauchte. Sie hatte ein Telegramm erhalten, das irrtümlich an sie ausgeliefert worden war. Die Tochter ihrer Nichte war gestorben. Beide begannen zu weinen und zu klagen, rauften sich die Haare, rissen sich an den Kleidern und wippten mit dem Oberkörper vor und zurück. Nie zuvor hatte ich ein so heftiges Trauern geschen. Ich versuchte, sie zu beruhigen, doch ohne Erfolg. Ich bot Mlle Spenner eine Zigarette an (ihre Tante rauchte nicht), aber sie lehnte ab. Auf diese Weise verging eine Stunde, dann waren sie plötzlich ruhig. Sie ordneten ihre zerrauften Frisuren und Kleider. „Jetzt würde ich eine Zigarette mögen“, sagte die Jüngere. Zur Bestattung fuhr keine von beiden. In der Baracke neben der unseren hatten die Elektriker und Klempner ihr Lager. Sie sprachen gern mit mir, da ich ein bisschen Deutsch konnte. Jacob, ein etwa vierzigjähriger Klempner aus Hamburg, war besonders freundlich. Einmal erzählte er mir, dass er absichtlich den oberen Teil seiner Zahnprothese zerbrochen habe, als er einberufen wurde, und auf diese Weise den Dienst bei seiner Kompanie um zwei Wochen aufschieben konnte. Ich erzählte Harry von ihm, und wir aßen alle zusammen Mittag im besten Restaurant von Marseille, „Le Jambon de Parme“””. So sah die Aufgabe des „Iravail Anti-Allemand“ (des anti-deutschen Widerstands) aus: Wir versuchten, deutsche Soldaten oder Matrosen zu beeinflussen, wenn sie nicht mehr an die Nazis glaubten. Es war eine äußerst gefährliche Arbeit. Bald darauf aßen wir zusammen mit einem Elektriker, der mir erzählt hatte, dass seine Tochter, noch ein Teenager, an Typhus gestorben war. Sie und seine Frau waren wegen der Luftangriffe aus Berlin evakuiert worden, aber in eine Gegend, in der das Wasser verseucht war. Harry teilte allerdings meine Einschätzung des Mannes nicht und jagte dem Elektriker einen Schrecken ein, indem er ihm andeutete, er arbeite für die Gestapo. Von da an vermied der Elektriker, mich anzuschauen oder mit mir zu sprechen, wenn wir einander über den Weg liefen. Wie auch immer, Harry hatte natürlich recht: Es war nicht ratsam weiterzumachen, wenn man sich nicht hundertprozentig sicher war. Nur wenige Genossen in der T.A.A. haben überlebt. Viele wurden von irgendwelchen unbekannten Personen denunziert und von der Gestapo verhaftet, immer auch gefoltert und gaben die Namen von Genossen preis, mit denen sie zusammengearbeitet hatten. Entweder tötete man sie gleich oder schickte sie in ein KZ. Mitte August 1944 landeten alliierte Truppen an der südfranzösischen Küste”, einige Wochen nachdem Marseille einen fürchterlichen Luftangriff erlebt hatte: Tausende Menschen starben und viele weitere wurden verletzt. Die Leute nannten es hier einen „Bombenteppich“. Die Bombenflugzeuge nahmen wahllos alles ins Visier. Beispäteren Luftangriffen achteten sie mehr darauf, nur strategische Ziele zu treffen.”” Man erzählte, dass Diebe Tote beraubten, indem sie ihnen Ohrläppchen und Finger mit Schmuck abschnitten. Mlle Spenner hatte einen Freund aus Holland, der als Zwangsarbeiter nach Frankreich verschleppt worden war. Nach dem Luftangriff blieb sie eine Woche lang ohne jede Nachricht von ihm, bis sie erfuhr, dass er verletzt war und sich in einem franzésischen Spital befand, wo es nicht genug zu essen gab. Sie brachte es fertig, etwas Butter für ihn zu stehlen. Ich begreife allerdings nicht, warum sie das tat. Immerhin hatten wir doch unsere Frühstücks- und Mittagsrationen mit Butter, Käse und Wurst. Ein französischer Arbeiter verpfiff'sie, und sie wurde auf der Stelle gefeuert. Inspektor Engel erschien in meinem Büro und kam sofort zur Sache: Ob ich die Stelle von Mlle Spenner übernehmen wolle. Dafür sprach in erster Linie, dass der Lohn deutlich höher war als mein bisheriger. Andererseits hätte ich den Inspektor auf seinen Fahrten zum Marinchauptquartier begleiten müssen, während ich als Quartiermeisterin mit meinen Seifen, Töpfen und Pfannen sehr viel sicherer war. Und vor allem hatte ich meine Kontakte zu den deutschen Arbeitskräften, was für die Widerstandsarbeit sehr wesentlich war. Ich lehnte also ab: Ich wolle nicht die Stelle von jemandem übernehmen, mit dem ich zusammengearbeitet hätte und immer gut ausgekommen sei. Inspektor Engel atmete förmlich auf, es war deutlich in seinem Sinne. Später kam Rita und teilte mir mit, dass sie die Stelle von Mlle Spenner übernommen hatte. Ich hatte schon zuvor bemerkt, dass der Inspektor in sie verliebt war und dass auch sie ihn mochte. Sie meinte, Mlle Spenner habe die Arbeit nicht wirklich gut gemacht, weil sie nur mäßig Französisch konnte. „Aber Rita“, erwiderte ich, „meine französische Aussprache ist auch bei weitem nicht perfekt.“ Ich hatte das immer damit begründet, dass ich so viele Jahre in der Schweiz gelebt hätte. „Das spielt keine Rolle“, entgegnete sie, „du sprichst korrekt, und sie nicht.“ Jedenfalls: Die zwei waren zufrieden, und ich hatte mir ihr Wohlwollen gesichert. Die deutsche Armee errichtete den sogenannten Mittelmeerwall?® entlang der Küste. Er sollte die Alliierten an der Landung hindern. Unser Haus in Le Redon lag direkt am Meer, und es war zu erwarten, dass wir es würden räumen müssen. Wir beschlossen, dies zu tun, bevor man uns zwang. Harry hatte jetzt einen neuen Chef, der offensichtlich kein Nazi war. Der sagte zu Harry, dass wir uns ein passendes Haus suchen sollten; das würde er dann requirieren. Wir schauten uns mehrere Villen an und fanden schließlich eine geeignete nicht allzu weit von meinem Arbeitsplatz entfernt. Die Besitzer befanden sich mit ihrer Tochter und deren Familie im sicheren Hinterland. Die Villa hieß Les Tourelles (die Türmchen), es war ein Doppelhaus mit zwei separaten Eingängen”. Wir zogen in einen Teil ein, die Familie Masset mit Pierre in den anderen. Nur die Schwester blieb in Le Redon zurück. Die Massets blieben allerdings nur zehn Tage. Die Schwester benachrichtigte sie, dass evakuierte Personen in ihrem Haus einquartiert werden sollten. Dann wurden auch die Arbeiten am Mittelmeerwall eingestellt. Pierre blieb bei Harry und mir. Eine sympathisch wirkende Frau, September 2020 57