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Madame Duclos, die sich im Marine-Spital um eine Arbeit beworben hatte, übernahm gern die Betreuung von Pierre. Ihren Ehemann hatte man kurz zuvor als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt. Sie hatte eine fünfjährige Tochter zu versorgen und brauchte dringend Arbeit. So verging die Zeit. Rita war eine angenehme Kollegin, aber ich sah sie selten. Inspektor Engel schien ihre Dienste mehr und mehr zu beanspruchen. In welcher Sprache sie sich verständigten, blieb mir ein Rätsel. Seine Französisch-Kenntnisse waren bescheiden, ebenso ihr Deutsch. Ich übernahm allmählich ihre Aufgaben bei Vorstellungsgesprächen und bei Einstellungen von neuem Reinigungspersonal. Die meisten Franzosen hörten sich nicht die Sendungen des offiziellen Radioprogramms an, denn dieses unterlag deutscher Zensur. Eine anglo-amerikanische Radiostation war kontinuierlich mit den neuesten Nachrichten auf Sendung. Es war streng verboten, sie zu hören. Darum kümmerten wir uns natürlich nicht. Wir schlossen bloß die Fenster und stellten das Radio leiser. Die Stimmung war jetzt geprägt von dunklen Vorahnungen, Unsicherheit und Furcht. Am 15. August landeten die alliierten Truppen in Südfrankreich. Eines Morgens erschien Mme Duclos nicht mehr. Deröffentliche Verkehr war zum Erliegen gekommen. Die anglo-amerikanischen und französischen Truppen näherten sich Marseille. Am Tag daraufkam Mme Duclos wieder. Harry brachte mich auf dem Fahrrad zum Spital. Ich wollte früh dort sein. Herr Wilhelm empfing mich mit kalter Miene und zornigem Blick. Er verlangte eine Erklärung für meine Abwesenheit am Tag zuvor. Ich erwiderte, der öffentliche Verkehr sei eingestellt worden, was er nicht glauben zu wollen schien. Ich suchte den Chefarzt auf. Der war eigentlich immer schr streng und Nlößte jedermann Furcht ein. Ich erklärte ihm den Grund meiner Abwesenheit. Da schaute er mich freundlich an und sagte: „Gehen Sie nach Hause zu Ihrem Kind und bleiben Sie bei ihm.“ Im Hof standen mehrere Munitionskisten herum. Offensichtlich hatten die Deutschen vor, sich zu verteidigen. Ich ging in mein Büro, nahm meine persönlichen Sachen aus meinem Schreibtisch und verlief das Spital. Straßenbahn kam keine. So brauchte ich eine Stunde zu Fuß für den Heimweg. Ich bat Mme Duclos, erst wiederzukommen, wenn die Alliierten — hoffentlich — die Deutschen vertrieben hätten. Ich gab ihr genug Geld, um die nächsten zwei Wochen zu überbrücken. Kurz danach traf Harry ein. Wir hingen am Radio, und spät abends wurde verkündet, dass sowohl die alliierten Truppen als auch de Gaulle und seine französischen Soldaten die Vororte von Marseille erreicht hatten. Es folgten schreckliche Tage. Die alliiert-französischen und die deutschen Truppen lieferten sich einen erbarmungslosen Kampf” Wegen der Detonationen von Mörsern, Granaten und Maschinengewehrsalven konnten wir nachts kein Auge zutun. Unser Haus konnte jeden Augenblick getroffen werden. Pierre schlief zu unserem großen Erstaunen tief und fest. Er hatte eine leichte Sommergrippe und ein wenig Fieber. Ich ließ ihn im Bett, und er war ganz zufrieden. Er hatte seine Bilderbücher und Spielsachen. Ihn focht nichts an, solange er nicht von uns getrennt wurde. In unserem Wohnviertel bildeten französische Patrioten Kampfgruppen und griffen deutsche Positionen in der Nähe an, um die Soldaten daran zu hindern, sich in die Wälder der Umgebung zurückzuziehen. Harry wollte sich ihnen anschließen, aber sie versicherten ihm, dass dies nicht nötig sei. Er kannte das Gelände 58 _ ZWISCHENWELT ohnehin nicht gut genug. Wir hatten unseren Zahnarzt eingeladen, im anderen Teil unseres Hauses zu wohnen. Darüber waren wir jetzt sehr froh, denn so konnten wir all den Leuten, die ständig die Villa besetzen wollten, erzählen, dass es keinen freien Raum gab. Wir fühlten uns für die Möbel verantwortlich; Fremde hätten möglicherweise etwas mitgehen lassen. Marseille war nun nicht mehr besetzt, aber die Lebensmittel- und Transportsituation blieb weiterhin kritisch. Simone de Beauvoir, Schriftstellerin und Gefährtin des Philosophen Jean-Paul Sartre, erhob später den Vorwurf, die deutschen Kriegsgefangenen in den amerikanischen und englischen Lagern hätten bessere Verpflegung erhalten als die französische Zivilbevölkerung. Wie immer, in den französischen Lagern war es genau umgekehrt. Ich sah, wie Soldaten der alliierten Truppen, die nicht an Kämpfen teilgenommen hatten, mit Lebensmittelkonserven handelten. Die hungernde französische Bevölkerung kaufte sie ihnen zu Schwarzmarktpreisen begierig ab. Mme Duclos kam zusammen mit ihrer kleinen Tochter wieder jeden Tag. Ich beschloss, in die Stadt zu fahren und zu schauen, was dort los war. Waren die Geschäfte geöffnet? Ich wartete eine halbe Stunde vergeblich aufeine Straßenbahn; dann entschied ich mich, zu Fuß zu gehen. Kurz darauf stoppte plötzlich ein amerikanischer Lastwagen neben mir. Der Fahrer bot an, mich mitzunehmen. Ich nahm es dankbar an, kletterte in den Wagen und setzte mich neben den Mann. Er freute sich schr, als ich ihn auf Englisch anredete, und mehr noch, als er erfuhr, dass ich Amerikanerin war. Bob war ein molliger, ganz nett ausschender junger Mann, der Dienst im Quartiermeisterkorps’“ tat. Wenn ich Interesse an englischen und amerikanischen Filmen im Original hätte, dann wüsste er, wo ich solche schen könnte, sagte er. Das wollte ich natürlich gern. Er setzte mich vor dem Kino ab, und wir verabredeten, dass er mich nach drei Stunden wieder abholen würde. Ich sollte dann vor dem Kino aufihn warten. Er musste dieselbe Strecke zurückfahren. Ich schaute mir einen Film an und ging danach einkaufen. Die meisten Geschäfte hatten offen. Ich kaufte eine Bluse und Unterhosen für Pierre. Bob kam pünktlich, und ich war im Nu daheim. Noch gab es keine Postverbindung zwischen den USA und Südfrankreich. Ich schrieb auf ein Stück festes Papier meinen Namen und meine Adresse, den Namen und die Adresse meiner Schwester in Brooklyn, New York, und den Satz: „Harry, Pierre und Irene sind in Sicherheit und wohlauf.“ Das gab ich Bob. Er versprach, es so bald wie möglich abzusenden. Am nächsten Tag ging ich Brot und Pierres tägliche Milchration einkaufen. Als ich zurückkam, zeigte mir Mme Duclos eine große Dose Kaffee und zehn Packungen C-Rationen. Ein amerikanischer Soldat namens Bob habe das für mich abgegeben. Solche C-Rationen erhielten die alliierten Soldaten, die an der Küste der Normandie und in Südfrankreich landeten. Sie enthielten Corned Beef, Suppen und ähnliches, vermutlich das erste Fast Food. Man musste dem Suppenpulver nur Wasser hinzufügen und das Ganze möglichst erhitzen, schon war es essfertig. Die Befreiung lag nun schon drei Wochen zurück, aber wir trugen immer noch den Nachnamen Verdier. Jemand hatte Harry versprochen, dass wir bald Ausweise mit unseren richtigen Namen erhalten würden. Als ich eines Abends vom Einkaufen nach Hause kam, traf ich zu meiner Überraschung neben Madame Duclos und Harry zwei unbekannte Männer in der Küche an. Die Kinder waren draußen spielen. „Erschrick nicht“, sagte Harry. Ich schaute ihn misstrauisch an: „Warum sollte ich erschrecken?“ „Nun, diese