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Männer kommen vom EEI., von den Forces francaises de l’interieur”‘“, wir sind verhaftet, sozusagen.“ Bald ging Mme Duclos mit ihrer kleinen Tochter nach Hause. Es war Zeit für Pierres Abendessen, ich kochte ihm einen Haferbrei. Neben mir stand einer der beiden Männer mit schussbereitem Gewehr. Nachdem Pierre gegessen hatte, packte ich eine Tasche mit Schlafanzug, Kleidung und Spielzeug und brachte ihn zu unserer Nachbarin schräg gegenüber. Ich bat sie, Pierre für einige Tage zu sich zu nehmen, und gab ihr 1000 Francs. Pierre kannte die Frau, aber er war trotzdem ziemlich unglücklich, von uns getrennt zu werden. Eine unbekannte Person hatte uns denunziert: Kollaboration mit der Nazi-Besatzung. Wenn wir nicht das Gegenteil beweisen könnten, würden wir am nächsten Tag um 13 Uhr erschossen. Man brachte uns in ein leerstehendes Schloss”, in dem die FEI. ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Die Leute waren sehr zuvorkommend und servierten uns zu unserem Erstaunen um sieben Uhr abends eine schr gute Mahlzeit. Natürlich waren wir nervös, aber ließen es uns nicht anmerken. Harry und Walter, ein österreichischer Genosse aus der Resistance”, sangen antifaschistische Lieder. Später erhielt ich die Erlaubnis, auf einem Tisch zu schlafen. Den Männern standen nur Sessel zur Verfügung. Harry sagte ihnen, sie sollten am nächsten Vormittag um zehn ins Rathaus gehen und dort Achille” in seinem Büro aufsuchen. Achille war Mitglied der FEI. und der französischen kommunistischen Partei. Er würde unsere Aussagen bestätigen. Später versicherte man uns, dass wir drei wie geplant erschossen worden wären, wäre Achille nicht da gewesen. In dieser Nacht schliefen wir kaum, aufgeschreckt durch Maschinengewehrfeuer: Wurden da Kollaborateure hingerichtet? Jedenfalls, Achille war da. Unsere Möchtegern-Scharfrichter fassten Vertrauen zu uns, besonders der Anführer, ein Kohlenhändler. Bei ihm kauften wir dann unsere Kohlen, als es Winter wurde. Dennoch hatte unsere Verhaftung durch die EFI. eine unschöne Nachwirkung. Pierre begann sich zu kratzen. Ich bemerkte sogar blutige Kratzspuren an seinen Handgelenken. Ich ging mit ihm zum Arzt in Sainte-Marguerite?‘®. Der untersuchte ihn gründlich: „Leider hat er eine leichte Form der Krätze?®. Ich verschreibe Ihnen ein Medikament, das Sie ihm bitte geben - ein oder zwei Mal sollte schon reichen. Allerdings haben zur Zeit sehr viele die Krätze, die Apotheken warten sehnlichst auf Nachschub.“ Anscheinend fehlte es überall an Seife und warmem Wasser. Pierre hatte im Bett von jemandem mit Skabies geschlafen. Als wir wieder draußen im Wartezimmer waren, stand ein Mann auf, wandte sich an uns und fragte: „Entschuldigen Sie, aber brauchen Sie die Skabies-Salbe, die der Doktor immer verschreibt?“ „Ja“, antwortete ich, „aber der Arzt hat mir eben erzählt, dass sie in den Apotheken ausgegangen ist.“ Er drückte mir eine Tube in die Hand; che ich ihn fragen konnte, was sie koste, sagte er „Au revoir“ und verschwand. Ein völlig Fremder. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen und sah ihn nie wieder. Ich erfuhr von einem amerikanischen Krankenhaus in Marseille. Da uns das Geld ausging, bewarb ich mich beim American Army Employment Oflice’”. Der Beamte, dem ich mich vorstellte, zeigte großes Interesse, als ich ihm erzählte, dass ich eine ausgebildete amerikanische Krankenschwester sei. Allerdings konnte ich ihm kein Diplom vorweisen. Das hatte ich zur sicheren Verwahrung in der Wohnung eines Freundes in Paris zurückgelassen. Ich muss aber einen guten Eindruck gemacht haben, denn er gab mir eine Karte für das amerikanische Krankenhaus. Ein anderer Beamter brummte, ich könne womöglich eine Spionin sein, fand aber keine Beachtung. Ich begab mich am nächsten Tag in das Krankenhaus und wurde sofort eingestellt. Es gab dort eine ganze Reihe französischer Krankenschwestern, aber nur eine war ausgebildet. Die Oberschwester überhäufte mich mit Arbeit, Infusionen zu verabreichen weigerte ich mich, denn mein Status war nur „ausgebildete Hilfskraft“. Unter den Patienten befand sich der für das amerikanische Immobilienkorps zuständige Offizier. Er litt unter einer schweren Nebenhöhlenentzündung, die mit ständigen Kopfschmerzen einherging. Die meisten anderen Patienten waren Schwerkranke und benötigten mehr Pflege. Ich legte ihm in kurzen Abständen heiße Kompressen auf die Stirn, und schon fühlte er sich besser. Die Soldaten betreute ich gern. Ich bekam mein Frühstück, wenn ich morgens eintraf, in der Mittagszeit mein Mittagessen, und ich nahm außerdem jeden Tag etwas zu essen nach Hause mit. Auch Harry und Pierre kamen auf diese Weise zu besserer Ernährung. Allerdings arbeitete ich nicht lange in dem amerikanischen Militärkrankenhaus. Eines Tages zur Mittagszeit, als ich eben meine halbstündige Essenspause machen wollte, erhielt ich Besuch von Noel Field”, dem Chef des Unitarian Service Committee”” (U.S.C.) in Europa. Irgendjemand mir unbekannter hatte ihm erzählt, dass ich wahrend des Bürgerkriegs im republikanischen Spanien gewesen war und mit Dr. Barsky’” zusammengearbeitet hatte, dem Gründer des American Medical Bureau to Aid Spanish Democracy?”*. Er war es auch, der der Unitarischen Kirche Noel Field als Leiter des Unitarian Service Committee empfohlen hatte. Field bat mich, das neue Zweigbiiro des U.S.C. in Marseille aufzubauen. Zunachst wehrte ich ab, weil ich meine Arbeit im Spital gern tat. Doch am Ende überzeugte er mich: Ich sei Krankenschwester in Spanien gewesen, spräche Spanisch und wolle doch sicher den spanischen Flüchtlingen, die so viel erlitten hatten, helfen! Die französisch-jüdische Organisation „CEuvre de secours aux enfants“ (OSE)?” stellte uns vorübergehend einen Raum zur Verfügung, bis wir das Quartierproblem gelöst hatten. Ich erinnerte mich an meinen Patienten im amerikanischen Armeekrankenhaus, den Quartiermeister. Den besuchte ich und bat ihn um Hilfe. Er freute sich, mich wiederzuschen, sagte: „Sie waren die einzige Krankenschwester, die sich bemüht hat, meine schrecklichen Kopfschmerzen zu lindern. Natürlich helfe ich Ihnen.“ Bereits nach einer Woche hatte ich Räumlichkeiten an der Canebiere, dem Hauptboulevard von Marseille, in zentraler Lage. Sie gehörten einer Firma, die Bananen aus Afrika importierte. Die deutsche Besatzung hatte die Räume requiriert. Erst kürzlich hatte die Firma sie wieder in Besitz genommen. Mein Immobilienbeamter und ich trafen dort einen der Eigentümer der Bananenfirma an. Ich hatte keine Skrupel, ihm seine Geschäftslokalitäten wegzunehmen. Ich war sicher, dass er noch weitere zur Verfügung hatte. Doch er wurde schr aufgebracht und verweigerte sein Einverständnis. Mein Beamter zog seinen Revolver und drohte, ihn auf der Stelle zu erschießen. Jetzt gab der Eigentümer nach. Es war wie in einem Western-Film. Er händigte mir die Schlüssel aus und machte sich verärgert vor sich hin murrend davon. Es handelte sich um zwei große Räume. Alle Fensterscheiben waren bei den Luftangriffen zu Bruch gegangen. Da wir aber eine amerikanische Hilfsorganisation waren, erhielt ich bald Glas von der Stadt Marseille. September 2020 59