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beginnt mit offensichllichem Vergnügen das Material zu studieren. „Mensch“, sagte er zu einem Landser neben ihm, „das mußt du lesen, das gehört aufs schwarze Brett.“ Als er und sein Nachbar mit dem Lesen fertig waren, schob er das Material in die Mitte des Schreibtisches und sagte zu mir: „Herr Fargot, das müssen Sie in der Mittagspause lesen, das wird Sie interessieren.“ Da kommt der Unteroffizier Gustav (sprich Justaff) herein. Er war in Zivil Bierführer in Spandau, offenbar so ein richtiger SA-Schläger seinem Aussehen nach. Fr sieht die Schriften, dreht sie zu sich, liest im Stehen alles durch, schiebt es weg, sagt „Feindpropaganda“ und geht. Mittags lese ich alles durch, denn das war mit der französischen Post schneller da als mit dem Kurier („Richard“ = Dr. Edel) aus Lyon. Einmal hörte ich eine Diskussion darüber, ob das alles aus der Wehrmacht stammt oder vielleicht doch „Feindpropaganda“ ist. Einer sagte: „Aber das muß doch aus der Wehrmacht kommen, seht ihr denn nicht, daß die Adressen in deutscher Schrift geschrieben sind?“ Dieses Argument überzeugte. Niemand hatte mehr einen Einwand. Hatten alle die Flugblätter und den „Soldat am Mittelmeer“ gelesen, erschienen die Empfänger einer nach dem anderen vor dem diensthabenden Oberzahlmeister und fragten ihn in strammer Haltung, was sie mit der Sendung machen sollten. Er befahl ihnen, in die Küche zu gehen und das Kuvert mit Inhalt im Herd zu verbrennen. Wenn sie zurückkamen, meldeten sie stramm die Ausführung des Befehls. — „Danke.“ Hier ist es notwendig, etwas über die Nazis in der Dienststelle zu sagen. Von Gustav, dem Bierführer aus Potsdam”, hörten wir schon; er war sozusagen der „Normaltyp“ eines Nazi. Der Stabsfeldwebel war sicher auch Nazi; er war wegen seiner Schikanen verhaßt, war sowohl nach oben wie nach unten isoliert. Dann gab es einen eigenartigen Typ, den Obergefreiten Oster. Er suchte mit mir Kontakt, aber nicht in politischen Gesprächen. Eines Tages fragte er mich um Rat: Er wäre früher bei der Feldpolizei in der Ukraine gewesen und bei einer Maschinengewehrübung bei Glatteis sei er ausgerutscht und habe sich den Knöchel der rechten Hand gebrochen. Deshalb sei er übrigens zur H.U.V. versetzt worden. Nun habe er Schmerzen und es sei notwendig, den Knöchel noch einmal zu brechen; bei dieser Untersuchung sei man draufgekommen, daß auch der linke Knöchel gesprungen sei und ebenfalls gebrochen werden müßte. Die Frage an mich: Ob er sich beide Knöchel gleichzeitig brechen lassen sollte, oder erst den einen und in sechs Monaten den anderen? Ich riet ihm, sich den linken Knöchel erst in einem Jahr brechen zu lassen, da hätte er jedenfalls Zeit gewonnen ... Er lachte: „Sie sind mein Mann, Sie verstehen die Dinge.“ Und seither war er mit mir schr gut; er erzählte mir, wie er Nazi geworden war: Er war Redakteur bei einer Kölner Zeitung gewesen; der Chefredakteur war Jude und eines Tages hatte er sich mit ihm zerstritten und wurde entlassen. „Seither hasse ich Juden wie die Pest.“ Daß dem so war, hörte ich, als er einmal im Nebenzimmer mit einem anderen über „Judenschlächtereien“ in der Ukraine diskutierte. Es war 1944, sowjetische Offensive’’’, und einige meinten, daß es den deutschen Gefangenen schlimm ergehen werde, weil die Russen ja eine Anzahl dieser Massengräber sicher entdeckt hätten. Und da meinte Oster: Daher war es wichtig, daß niemand bei den Exekutionen mit dem Leben davonkam; er kenne einen Fall, wo Tausende Juden umgebracht worden seien und wo ein 14-jähriger Junge aus Mitleid laufen gelassen wurde. Wehe, wenn der dann unter den Gefangenen Deutsche identifiziert, die bei der Exekution 66 _ZWISCHENWELT dabei waren... Da stürzte Würz (der elsässische Dolmetscher) ganz rot aus dem Zimmer und murmelte: „Je ne peux plus“ (ich kann nicht mehr). Und dieser Oster hat mir bei einer anderen Gelegenheit wahrscheinlich das Leben gerettet: Eine der üblichen Diskussionen über aktuelle Ereignisse. Castello Gandolfo, der Sommersitz des Papstes, war bombardiert worden. Die Flugzeuge waren ohne Hoheitszeichen gewesen. Bei der Diskussion anwesend waren auch Oster, Gustav, Würz. Einer sagte: „Das ist doch eine Gemeinheit, den Sitz des Papstes zu bombardieren.“ Und ich darauf: „Ja, und so ist es im Krieg, die Engländer werden behaupten, die Deutschen hatten Gandolfo selber bombardiert, um es dann den Engländern in die Schuhe zu schieben...“ Da springt Gustav auf, geht auf mich los: Wie ich so etwas sagen könne, was ich hier eigentlich mache... Da sagt Oster (so ungefähr): „Setz dich, Justav, du hast Herrn Fargot überhaupt nicht verstanden; er meint doch, was das für eine Gemeinheit von den Engländern ist, sowas zu behaupten! Natürlich war das ein enormer Blödsinn, daß ich da den Mund aufgemacht habe und mit Recht rügte das nachher Würz... Sehr typisch für Emil Rutschke war sein Verhalten zu einem anderen Nazi, einem Bayern, einem Arbeiter. Dieser war mir aufgefallen, weil er häufig seinem Haß gegen die Kommunisten freien Lauf ließ, besonders wenn er etwas getrunken hatte. Wobei er immer wieder darauf hinwies, daß er selbst Kommunist gewesen sei, ihm könne niemand was erzählen... Eines Tages erzählte mir Emil: Als die H.U.V. 43 in Lublin Dienst machte, hatten sie in einem Kohlenlager die dort arbeitenden Juden zu bewachen. Da schoß eines Tages der Bayer ohne jeden Anlaß aufeinen Juden und tötete ihn. Emil hätte ihn dann vor allen anderen einen Mörder geheißen. Und er rede auch jetzt nicht mit ihm; wenn der Bayer von ihm etwas wolle, sage er: „Mit einem Mörder rede ich nicht.“ Diese Geschichte wurde mir später von jemand anderem bestätigt, nur weiß ich nicht mehr, von wem. Die Offiziere Unter den Offizieren, den Zahlmeistern, gab es, soweit ich mich erinnere, keine Nazis. Von Zahlmeister Martin habe ich schon berichtet und auch von den Zahlmeistern, die die „Post“ aus Paris entgegennahmen, weiterverteilten, selber meist lasen und erst dann vernichten ließen. Ein anderer Fall: Ein Zahlmeister, im Zivilberuf Klaviervertreter, war in Konstanz zuhause. Er sagte oft: „So ein Pech; wäre ich um sechs Meter weiter südlich geboren worden, wäre ich Schweizer.“ Er kam vom Urlaub zurück und erzählte, daß er drüben in der Schweiz gewesen sei, im Kino; und dort habe er Paulus?‘ geschen und eine Menge Offiziere, die sahen recht beruhigend aus. „Es ist nicht wahr, was man uns erzählt.“ Einmal versammelten sich Offiziere vor der großen Europakarte, die an der Wand hing. Sie begannen Entfernungen zu messen. Ich wunderte mich; was wollen die? Bald hatte ich begriffen: Sie schätzten die Entfernungen von Marseille zu verschiedenen Punkten der Schweizer Grenze. Es dürfte das schon nach der Landung der Alliierten in der Normandie’’’ gewesen sein und ich hatte den Eindruck, sie hofften, daß der Wehrmacht in der Provence der Rückzug Richtung Elsaß abgeschnitten und sie in die Schweiz gedrängt würde, was ihnen offenbar eine sympathische Perspektive war. Halb Spaß, halb Ernst dürfte es gewesen sein, als sich so ziemlich alle Zahlmeister Zivilanzüge machen ließen. Das kam so: Zur