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Anfertigung von Matratzenüberzügen wurden zwei armenische Schneider aufgenommen. In kurzer Zeit saßen in der Werkstätte sechs Armenier. Wie sich später herausstellte, waren sie vor allem damit beschäftigt, den Offizieren Zivilanzüge anzufertigen, was strengstens verboten war.’’® An einem Sonntag sah ich die Zahlmeister (fast alle!) in Zivil lachend die Canebiére hinunterstolzieren... Die Österreicher Von einigen war schon die Rede: Von denen, die mit Erfolg Schwejk im Zweiten Weltkrieg spielten. Da gab's solche, wie den Chauffeur auf einer ,,Gstetten“**’, der von seinem Chef seinerzeit zum „illegalen“ Nazi geworben wurde und jetzt erklärte: „Mi kriegn’s nimmer! Nachn Krieg wern’s wieder kommen, von der S.P.’® und mich werben wollen; aber i geh zu kaner Partei mehr. Auch zu kaner andern.“ Im Frühjahr 1944 kamen gemeinsame Spaziergänge von mir mit den Österreichern zustande. Ich weiß nicht, wie das angefangen hat. Da wurden oft Urlaubserlebnisse erzählt. Orasch, der Kärntner Finanzer, erzählte, daß es in Südkärnten häufig vorkomme, daß Soldaten, wenn sie sich in entlegenere Gegenden wagten, von Partisanen”' überfallen und vor die Wahl gestellt würden, ihre Waffe herzugeben oder mitzugehen. Er behauptete, ihm sei dies beim letzten Urlaub auch passiert. Er habe seine Pistole hergegeben... Ich habe es ihm nicht geglaubt, aber es war immerhin typisch für die Stimmung dort. Der Beste aber war Ludwig Grasweger*”. Er war ein Steinbrucharbeiter aus Hallein und haßte die Nazis und ihren Krieg; er sprach offen, und eines Tages ging er mich um den „Soldatam Mittelmeer“ an. Wahrscheinlich hatte Emil ihm schon was zu lesen gegeben und er vermutete, daß das von mir stammte. Ich gab ihm natürlich nichts und spielte den Erstaunten. Aber einige Tage später kam er triumphierend zu mir: „Ich hab schon was!“ Eine französische Bedienerin hätte ihm das gegeben, sie sagte, sie hätte das gefunden. Ich habe nie erfahren, ob das wirklich so war. Am nächsten Tag kam Emil zu mir und erzählte mir: Ludwig hat sich in der Unterkunft zum Tisch gesetzt, an dem viele Landser saßen, ein Flugblatt herausgezogen, hingelegt, glatt gestrichen, die Brille aufgesetzt und halblaut zu lesen begonnen. Ich möge ihm doch sagen, er solle doch nicht so unvorsichtig sein. — Ich sprach mit Ludwig, er lächelte nur: „Es passiert ch nix. Aber i wer mehr aufpassen.“ Und es passierte auch nichts. Von Ludwig wird noch später die Rede sein. Avignon Mitte Juli 1944 wurde die H.U.V. 43 verlegt: Das Büro nach Avignon, das Lager nach Saint-Remy-de-Provence’“®. Mein Verbindungsmann Roger empfahl mir, mitzugehen. Der Zahlmeister, der das Lager in St. Remy zu verwalten hatte, wollte mich dorthin haben: Dort war er allein mit einem Unteroffizier, einem Lehrer aus Westfalen, mit Ludwig und einem zweiten Soldaten, mit Nicolas’ und rund 15 bis 20 französischen Lagerarbeitern. Ich lehnte ab, weil ich mir einbildete, daß ich in Avignon, mit seiner größeren Garnison, leichter Kontakte mit Landsern haben könnte. Das war aber ganz anders: Wir waren in einem Warenhaus untergebracht, zusammen mit der H.U.V. 44, und natürlich mußte ich dort mit Landsern wohnen: Zu zweit in einer Koje des Warenhauses. Um mich war ein „Griß®, und schließlich wohnte ich mit Reichert, einem Hotelierssohn aus Wiesbaden. Für ihn war das Wichtigste, verschiedenes für sein Hotel zusammenzukaufen und nach Hause zu expedieren. Er erzählte mir von seinen Geschäften, was ziemlich langweilig war. In Avignon gab es von den Landsern, mit denen ich Kontakt hatte, nur den Berliner Buchhalter. Eines Tages besichtigten wir gemeinsam den Papstpalast; auf dem Rückweg diskutierten wir. Er meinte, man solle die Chancen Hicders nicht unterschätzen; da gäbe es sicher noch ein ganzes Arsenal von V-Waffen?“. Hitler sei noch nicht militärisch geschlagen. Wir diskutierten längere Zeit; Ergebnis: Er meinte schließlich, daß wegen der Zerstörungen die Produktion neuer Waffen wohl auch nicht mehr lange weiter gehen werde. Merkwürdig: Das war die Zeit des Attentats auf Hitler”; aber ich erinnere mich nicht, mit dem Berliner darüber diskutiert zu haben. Wahrscheinlich bloß eine Gedächtnislücke bei mir. Saint-Rémy-de-Provence Eines Morgens, Ende Juli 1944, kam Reichert von der Torwache, die er diese Nacht gehabt hatte, herauf und erzählte mir, daß in der Nacht die Gestapo im Haus gewesen sei und den Dolmetscher der H.U.V. 44, die ebenfalls in dem Warenhaus untergebracht war, festgenommen hätte. Am Vormittag ging ich zum diensthabenden Zahlmeister und erklärte ihm, daß ich hier in Avignon kaum etwas zu tun hätte und der tägliche Fliegeralarm mit Fahrt in die Stollen unter dem Papstpalast auch nicht vergnüglich wäre. Ich wäre bereit, nach St. Remy zu gehen. Der Zahlmeister rief sofort an und noch am Vormittag brachte man mich nach St. Remy. In St. Remy war das Lager der H.U.V. 43 in einem großen, langgestreckten Gebäude, angeblich eine ehemalige Mühle, untergebracht. Es gehörte zu einem größeren Anwesen rund 20 Minuten Fußmarsch nördlich der Stadt, der „Mas Mistral“?®. Wie schon erwähnt, befanden sich dort der Zahlmeister (ein Kaufmann aus Berlin), ein Unteroffizier (Lehrer aus Westfalen), Ludwig Grasweger und ein Soldat als Fahrer für den Dienstwagen. Die Wohngebäude waren nur zum Teil von der Wehrmacht beschlagnahmt. Der Besitzer, ein alter Arzt, war nach Nordafrika gegangen, aber zwei Söhne mit ihren Familien (mit 14 Kindern zusammen!) wohnten weiter dort. Nicolas und 15 bis 20 Lagerarbeiter, alle aus Marseille, waren dort beschäftigt, wohnten jedoch in einem Hotel in der Stadt. Eines der Wohngebäude hatte im Erdgeschoß zwei Wintergärten; in einem befand sich das „Büro“ (ein Schreibtisch) und war auch die Unterkunft von Ludwig. Ich wurde auch dort einquartiert. Im anderen Wintergarten, durch eine dünne Wand getrennt, versammelten sich die beiden französischen Familien abends zum Diner. Man sah ihre Schatten auf dem Fußweg des großen Parks, der das Anwesen umgab. Ludwig war sehr froh, daß ich nach St. Remy gekommen war. Bald erfuhr ich, daß er einen besonderen Grund dafür hatte. Er erzählte mir, daß im Falle des Abzuges der H.U.V. das Lager in die Luft gesprengt und angezündet werden sollte. Die Bewohner durften nicht oder erst im letzten Moment gewarnt werden. Das müsse verhindert werden. Mit den drei anderen würden wir schon fertig werden. Ludwig hatte für mich eine Waffe „organisiert“: Der Zahlmeister hatte außer seiner Pistole einen Karabiner”” zur Verfügung, „von dem er aber nichts weiß“ (so Ludwig). Diesen September 2020 67