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leere Flasche Cognac vor sich... Ich sprach nicht vom Schlüssel, die beiden auch nicht. Ich fragte: „Sie ziehen ab? Bitte, da müssen Sie mir noch die Anweisungen für die restlichen Löhne der Arbeiter unterschreiben, Herr Zahlmeister.“ Der Hauptmann: „Ich scheiß‘ auf die französischen Arbeiter.“ — Ich zum Zahlmeister: „Das Ansehen der Deutschen Wehrmacht steht auf dem Spiel!“ — und er unterschrieb einige Zettel. Und dann ging’s los: Schreiende Befehle: „Schneller, wir müssen uns beeilen...“ Es wurde finster: „Kein Licht machen!“ Der Unterofäizier: „Sind alle da? Wo sind Sie, Grasweger? Melden Sie sich!“ Ludwig hatte sich in eine Ecke verdrückt. Offenbar wollte er im Schutz der Dunkelheit desertieren. Er hatte mir schon Andeutungen über solche Absichten gemacht. „Ihr könnt’'s mich doch verstecken.“ — Ich hatte große Mühe, ihm klar zu machen, daß das unter den gegebenen Umständen nicht geht, besonders da ja vorauszusehen war, daß die deutschen Truppen noch einige Tage in St. Remy bleiben werden. Jetzt also versuchte er es doch, es gelang ihm natürlich nicht: „I bin ch da...“ Und dann setzte sich die Truppe in Bewegung. Am nächsten Morgen kam Ludwig zurück: Er wolle sich rasieren, die H.U.V. habe im nächsten Ort übernachtet, es gehe erst mittags weiter. Als wir alleine waren, gab ich ihm einige Flugblätter, die oben immer den französischen Vermerk trugen, daß der betreffende deutsche Soldat Antifaschist sei. Er steckte sie ein und marschierte ab... Später bemerkte ich, daß die Kinder im Hof irgendwas umherwarfen: Es waren Sprengpatronen und Brandfläschchen mit den Lunten dran! Nicolas und ich verjagten die Kinder, wir verständigten die Mairie”° und ein Sprengsachverständiger holte das Ganze mit einem LKW ab und brachte es in einen Steinbruch. Nicolas veranlaßte sofort nach dem Abzug der H.U.V., daß alle Hinweistafeln zur H.U.V. 43 in St. Remy von den Arbeitern entfernt wurden; er berief sich auf eine angebliche Weisung des Zahlmeisters. Wie sich später herausstellte, war das wichtig, denn zwei Tage später wurde die H.U.V. 43 von einer anderen Pioniereinheit gesucht, aber nicht gefunden. Am Mittwoch, den 23. August, zog dann in den Abendstunden die ganze deutsche Besatzung aus St. Remy ab. Am Donnerstag Vormittag saßen die Einwohner auf den Terrassen der Cafes und warteten auf weitere Ereignisse. So ungefähr um zehn Uhr zog eine deutsche Einheit durch. Die Soldaten waren sehr erschöpft, denn sie mußten zu Fuß marschieren, während die LKWs leer mitfuhren, offenbar um Treibstoff zu sparen. Die Franzosen auf den Cafe-Terrassen luden die Soldaten ein, Schluß zu machen; aber sie reagierten nicht. Eine halbe Stunde, nachdem der Spuk vorbei war, erschien aus der gleichen Richtung ein einzelner deutscher Soldat, schwer bewaffnet, aber offenbar todmüde, taumelnd. Ich ging zu ihm hin und riet ihm, sich gefangen zu geben. Er erklärte mir, daß er eigentlich ein Pole sei, aber als „Volksdeutscher“?”” mobilisiert worden war. Man habe ihm gesagt, als Polen würden ihn die Amerikaner erschießen. Ich sagte ihm, daß das ein Unsinn sei und informierte die Franzosen, die sich um uns drängten. In ein paar Minuten war ein Pole da, der den Soldaten überzeugen konnte, daß er nichts riskiere, wenn er sich gefangen gäbe. So zogen wir zu dritt zum Rathaus, wo der Flurwächter den Soldaten feierlich entwaffnete. Er wurde in den Arrest gesteckt, bekam zu essen und war bald eingeschlafen. Diese Episode war für meine „Legitimierung“ wichtig, denn man kannte mich nun als den „Monsieur, der den ersten Gefangenen gemacht hat“. Im weiteren Verlauf dieses Tages ging eine „Bilderbuch“-Be378 freiung in St. Remy in Szene: Gegen Mittag kamen aus Alpilles”®, den benachbarten Bergen, 24 Partisanen anmarschiert, legten feierlich auf der Place de la République die Waffen nieder und zogen mit einer großen Menschenmenge zum Rathaus, an dem inzwischen eine blau-weiß-rote und eine rote Fahne gehißt worden waren, und der Anführer (ich glaube, es war der ehemalige sozialistische Bürgermeister”””) übernahm die Macht. Nachmittags waren überall Fahnen gehißt. Die Leute hatten blau-weiß-rote Armbinden und bald hieß es: „Die Amerikaner kommen!“ Am östlichen Ortseingang waren die Honoratioren inmitten einer großen Menschenmenge versammelt, eine Lehrerin übte aufgeregt einen englischen Begrüßungstext ein, als ein kleiner Panzer heranfuhr. Da öffnete sich die Luke und ein junger Soldat rief: „Bonjour les gars.“®° Es waren nicht Amis, sondern eine französische Panzerdivision, die heranrückte. Der Jubel war groß und aus dem Spalier wurden in die Luken der Panzer Wein- und Cognacflaschen und Melonen geworfen. Die Division rollte durch, hinter den Deutschen her, nur eine größere Besatzung blieb in St. Remy. Am Abend wurde im Licht der Scheinwerfer der Jeeps getanzt. Der Krieg war für St. Remy zu Ende. Anmerkungen 1 Informationen aus dem autobiographischen Text „In Frankreich für Österreich“, Akten aus dem Archiv der Universität Wien und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und Informationen durch Sohn Wolfgang Friedler. 2 DÖW, KZ-Verbandsakten, 02729. 3 Archiv der Universitat Wien, Senat S 185.1050. 4 Konnte mangels Angaben nicht identifiziert werden. 5 Sie war das zweite Kind von Dr. Heinrich Steinitz und Meta Steinitz und studierte Chemie an der Technischen Universitat Wien. 6 DOW 2648, Anni Friedler, geb. Steinitz. Gedichtnisprotokoll, aufgenommen am 23. August 1965 durch Tilly Spiegel-Marek. 7 Die Forces Frangaises de l'Intérieur, FFI, übersetzt „Französische Streitkräfte im Inneren“, bildeten ab 1. Februar 1944 den institutionellen Rahmen für die französischen Widerstandsgruppen. Lettre de nomination, ausgestellt v. Medecin Commandant BARANGE, Service de Sante der Forces Frangaises de I’Intérieur (REI), Région de Lyon, 15. 11. 1944. DOW, Akt 21379. 8 Laisser-Passer, Forces Frangaises de l’Intérieur, 4.9.1944. DOW, Akt 21379. 9 Carte @identité, République Frangaise, Service de Santé des EEI. (Délégation Zöne Sud du C.M.R.), 28.11.1944. DÖW, Akt 21379; Kurzlebenslauf von Josef Friedler, Schreibmaschine, 1 Bl., undatiert (nach 1982), zugesandt von Sohn Wolfgang Friedler. 10 Brief von S. Friedler, Birmingham, an Josef Friedler. DOW, Akt 21379. 11 DOW 2648, Dr. Josi Friedler, Gedachtnisprotokoll, aufgenommen am 23. August 1965 durch Tilly Spiegel-Marek. 12 Archiv der Universitat Wien, Senat S 185.1050. 13 DOW, KZ-Verbandsakten, 02729. 14 Kurzlebenslauf von Josef Friedler, Schreibmaschine, 1 Bl., undatiert (nach 1982), zugesandt von Sohn Wolfgang Friedler. 15 Mail von Wolfgang Friedler an Katrin Sippel, 24.5.2019. 16 Franz Richard Reiter (Hg.): Unser Kampf. In Frankreich für Österreich. Interviews mit Widerstandskämpfern. Wien u.a. 1984. 17 Das „Bataillon 12. Februar“ war eine Einheit, die hauptsächlich aus österreichischen Freiwilligen bestand. Der Name bezieht sich auf den Beginn des Aufstands gegen das Dollfuß-Regime am 12. Februar 1934; gegründet mit Wirkung vom 21.6.1937 als IV. Bataillon der XI. Internationalen Brigade. 18 Militärische Einheiten aus ausländischen Freiwilligen, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner kämpften. Noch vor Ende des Bürgerkrieges 1938 demobilisiert. 19 Der „Geeinte Rote Studentenverband“ wurde 1935 als illegale studentische Einheitsfrontorganisation gebildet und stand wesentlich unter KPÖ-Einfluss. September 2020 69