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Dem Girl wird natürlich der gute, harte Kerl gegenübergestellt. Brad Pitt läuft zur Höchstform aufals Cliff, der ehrliche Good Guy mit Schlägerambitionen. Er verkörpert, in die heutige Zeit transferiert, den klassischen republikanischen Wähler, den Trump-Wähler: ein einfacher, guter, aber harter Kerl mit handfesten Werten wie ihn z.B. Michael Kimmel in Angry White Men beschreibt. Auch diese Spezies Mann wird möglicherweise bald Geschichte sein. Das Showdown als Persiflage in einer grandiosen Opfer-Täter-Umkehr Das Beste kommt zum Schluss und es kommt unerwartet als Happy End: Seht her, wir lassen uns nicht tatenlos abschlachten von einer radikalisierten Hippie-Bande. Sharon Tate und ihre Freunde werden nicht von Mansons Soldatinnen ermordet wie in realitatem, nein, die Geschichte wird anders geschrieben, sie wird genau so geschrieben, wie sie es verdient hätte und zwar gleich zweifach komplett umgeschrieben. Erstens: Die vermeintliche Manson-Bande orientiert sich wegen eines Zufalls kurz vor dem geplanten Mord in Polanskis Villa am Cielo Drive um. Man beschließt, statt dessen den arroganten TV-Star Rick Dalton in der Nachbarvilla zu erstechen. Es kommt zum blutigen Showdown, wie es in allen Tarantino-Filmen zum Showdown kommen muss. Die Angegriffenen wehren sich nach Leibeskräften, drehen den Spieß um und schlachten alle Angreifer ab, bis auch das letzte Hippie Girl von Rick Dalton persönlich mit genau jenem Flammenwerfer abgefackelt wird, mit dem er dazumal seinen filmischen Widersacher, einen Nazi, abbrutzeln durfte. Aber es gibt noch einen zweiten Strang, der parallel im Showdown als Opfer-Täter-Umkehr läuft: Seht her, Menschen jüdischen Glaubens, Menschen mit jüdischen Namen lassen sich nicht mehr tatenlos abschlachten, sollte es jemals wieder Tendenzen zu einem zweiten Holocaust geben. Stellvertretend für die zweite und dritte Generation der Shoa-Überlebenden stellt diese Filmbotschaft klar, man wehrt sich nach Leibeskräften. Ein weiterer Völkermord, bei dem die ganze Welt zusieht, kommt nicht in Frage. Es bleibt eine Implikation. Wieder. Warum über diese wichtige Aussage niemand schreibt in den Feuilletons? Die hochschwangere Sharon Tate darf leben und wird selbst Leben zur Welt bringen, Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens wollen nicht mehr das Erbe des Opferstigmas vor sich her tragen. Am Ende schließt sich auch hier das Leitmotiv von Alt versus Neu — „Once upon atime“. Es war einmal und wird nie wieder passieren. Wie wohltuend, wenn nicht wie jüngst in Österreich im Rahmen der Ibiza-Affäre eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet, sondern sich Opfer von ihrem Stigma befreien und signalisieren — wir sind wachsam, wir haben Mittel uns zur Wehr zu setzen. Vielleicht ist dieser parallele Strang des Showdowns als Hinweis zu lesen für Tarantinos zehnten (und möglicherweise letzten) Film, der noch folgen wird. Regina Hilber, geb. 1970, lebt als Lyrikerin und Essayistin in Wien. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre Iyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Lesungen bei internationalen Poesiefestivals. Sie ist auch als Herausgeberin und Publizistin tätig und wurde zu zahlreichen Aufenthalisstipendien geladen. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Sie betreibt den Weblog www.dielavoir.com. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018); Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus. Dass Lydia Mischkulnig in dem Roman „Die Richterin“ eine Richterin des Bundesverwaltungsgerichtes, eigentlich Vergaberechtsexpertin, wie uns von der Romanregie mitgeteilt wird, aber wegen des großen Andrangs mit der Reparatur oft rechtswidriger und weltfremder Asylbescheide weisungsgebundener Referenten befasst, führt anders, als man vermuten möchte, nicht in gestelzte höhere Sphären oder in eine höllische Verschlingung von Präjudiz und richterlicher Selbstherrlichkeit wie bei Albert Drach, sondern in die recht lebensnahe Schilderung des Alltags der Richterin, der aber auch in allerlei Befindlichkeiten, Ängste um das Augenlicht, verschobene Arzttermine, Konflikte mit dem sich als Hausmann betätigenden, die jahrzehntelange Lebenspartnerin fürsorglich belagernden, vorzeitigen Ruhestand genießenden Ehegatten, verläuft, d.h., die Handlung, eine langsam vorwärtsdrängende Macht, ein Maulwurf sozusagen, der den glitzernden Tunnel voller Lebensscherben durchwühlt, muss erst einmal in alldem und durch all das hindurch, es steht ihr kein Jenseits einer Tatenwelt zur Verfügung, sie muss sich auch in dem Fläschchen mit den Augentropfen, mit dem die Richterin fortgesetzt hantiert, erweisen. Manchmal fühlt man sich durch die Zerfaserung der Protagonistin in ihre Dinge und Tätigkeiten an Renate Welsh’ die Allmählichkeit feiernden Roman „Geliebte Schwester“ erinnert — auch die Richterin ist menschlich, also sozial geschen, kein Festkörper, um den sich die Welt teilt, um hinter ihr auf 80 _ ZWISCHENWELT unerklärliche Weise wieder zusammenzuwachsen, sondern ein Bündel angefangener Gedanken, halb erledigter Akten, einzuhaltender Termine, verschwitzter Kleidungsstücke, Freude an einem guten Glas Wein, Fäden nach verschiedenen Seiten um sich spinnend, Objekt beobachtender Seitenblicke, und immer wieder von neuem bis in die Grundfesten erschüttert vom Bild des an seinem Schreibtisch erschossenen Vaters, ungeklärt, ob es Mord oder Selbstmord war, und von der verzweifelten Liebe zu einem jüngeren Bruder, der nach Entziehungskuren und Obdachlosigekeit nun als kleiner Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Kabul lebt, der städtischen Agglomeration, um deren Prosperität und Sicherheit es immer wieder in den Verfahren gegen oder auch für die Schutzbefohlenen geht. So schwierig es ist, es gelingt Mischkulnig, den von Nihilismus und vorauseilendem Gehorsam des Eh-schon-Wissens verengten sozialen Raum wieder ein wenig zu öffnen, als einen möglichen Handlungsraum — zumindest gilt das für die juristische Gestaltung der Erkenntnisse der Richtererin, wenn sie zum Beispiel bei einer sonst abzuweisenden Asylwerberin humanitäres Bleiberecht zuzuerkennen vermag. Gerade in der Rechtspflege zeigt sich ein Schimmer von Freiheit. Allerdings ist dieser soziale Raum des neonerleuchteten stocknüchternen Verhandlungssaales gleich wieder durch ein Geiwrr misstrauender, abschätziger, angstvoll sich verweigernder Blicke wie von einem dichten Spinnennetz durchzogen, von protokollarischen