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Auswahl-Editionen ab 1945 beigetragen, die den Kernbestand von Haringers Werk bestens vermitteln, z.B. „Lieder eines Lumpen. Aus dem Gebetbuch des armen Jakob Haringer“ (1962) nach einem Manuskript, das Haringer selbst kurz vor seinem Tod seinem Verleger Werner Classen anvertraut hatte; „Der Hirt im Mond“, hg. von Theodor Sapper 1965; ,,Das Schnarchen Gottes und andere Gedichte“ hg. von Jürgen Serke 1979; „In die Dämmerung gesungen“ hg. von Wulf Kirsten 1982, „Aber des Herzens verbrannte Mühle tröstet ein Vers“ hg. von Hildemar Holl 1988. Auch eine Reihe beachtlicher textanalytischer und in die Tiefe gehender literarischer Essays von Haringer-Kennern, die in jeder neuen Arbeit über Haringer wahrzunehmen sind, sind zu nennen: so z.B. von Peter Härtling 1962, Jürgen Serke 1977, Vivien Carol Fisher über das Heimweh-Motiv 1979, Wulf Kirsten 1982/1988, Gerd-Klaus Kaltenbrunner über „Vom Gotteslästerer zum Herrgottsdichter“ 1999, Hildemar Holl/Brita Steinwendtner 1999 und Daniela Strigl über „Fremdheiten“ 2007. Man weiß also im Prinzip und auch in vielen Details, wer das war: Jakob Haringer — einer, der ob der Zumutungen, die er seitens der Gesellschaft erfahren und erleiden musste, die narzisstische Stilisierung seines Selbst als lumpenproletarischer Außenseiter pflegte, sich als Anti-Bourgeois, als gottverlassener, einsamer und erlösungssüchtiger Märtyrer empfand und unablässig die Sehnsucht nach Geborgenheit tagtäglich pflegte und literarisch beschwor. Gut nachvollziehbar ist deswegen auch das Fasziniertsein Braegs und die für ihn offensichtlich ausschlaggebende Identifikationsfigur Haringer: Vagant, Vagabund, Sonderling, Anarchist, Psychiatriepatient, Flunkerer, linker Revolutionär, religiös geprägter Weltschmerzdichter, ein mit den Gesetzen/Konventionen auf Kriegsfuß Stehender, Eremit, Lebenskünstler, Villon- und Rimbaud-Wahlverwandter, Bohemien, Heimatloser, Fremdling, Verfolgter, Verbannter, Exilant, Kunstfreund, Egozentriker, Genieapostel, glaubiges Kind, Frauenfreund, Bettelbriefschreiber, Schmarotzer und Schnorrer, manieristischer Sprachartist, Internationalist, Anti-Militarist, Anti-Spießer — „Original“. Nicht weniger als etwa 1300 literarische Texte unterschiedlicher Genres sind uns aus Haringers Werkstatt überliefert. Seit dessen 20. Lebensjahr wurden zu Lebzeiten bis 1948 ca. 20 Einzelbände publiziert: z. B. „Hain des Vergessens“/Gedichte 1919; „Die Kammer“ /Gedichte 1921; „Weihnacht im Armenhaus“/MarienOden/Staub/Lieder/Hymnen 1924; „Das Marienbuch des Jakob Haringer“/Gedichte 1925; „Das Räubermärchen“ 1925; „Die Dichtungen“ 1925 mit einem Gruß von Alfred Döblin an den Dichter und einer Umdichtung von Villons „Le Testament“; „Kind im grauen Haar“/Gedichte 1926; seit 1928 mehrere Ausgaben des „Stundenblattes mit dem Titel „Die Einsiedelei“; „Das Schnarchen Gottes“/Gedichte „für fachsimplige Entwicklungstrottel“ 1931; „Vermischte Schriften“ mit Autobiographischem, Gedichten und Nachdichtungen u.a. frz. Dichter 1935; „Das Fenster“/Gedichte 1946; als Herausgeber: „Epikur: Fragmente“ 1947. Haringers Texte wurden seit den 1920er Jahren in zahlreichen bekannten Anthologien —2z.B. „Anthologie junger Lyrik aus Österreich“ 1930, „Um uns die Stadt“ 1931, „Salzburger Almanach“ 1935/36, „Vom Schweigen befreit“ 1947, „Der tausendjährige Rosenstrauch“ 1949, „An den Wind geschrieben“ 1960, „100 Jahre Lyrik“ 1992 — und in etwa 40 renommierten Zeitschriften und Zeitungen, von spätexpressionistischen, linksliberalen bis zu konservativkatholischen Blättern in Deutschland und Österreich veröffentlicht. Sein Vermittlungsbüro muss gut gearbeitet haben. Auch die Presse und Literaturkritik seiner Zeit hat Haringers nicht gerade stromlinienförmigen Werdegang und sein Werk wahrgenommen, rezensiert und analysiert, so z. B. Alfons Petzold, Otto Stoeßl, Siegfried Freiberg, Oskar Bendiener oder Erwin H. Rainalter. Es konnte nicht ausbleiben, dass sich auch die denunzierende NS-Presse zu Wort meldete. Zwischen 1927 und 1933 bzw. 1938 wurden seine Texte, auch von Haringer selbst, in deutschsprachigen Sendern, im damals neuen Medium Radio oft rezitiert. Auch nach 1945 war Haringers Werk im Radio keineswegs vergessen. Nicht nur Arnold Schönberg hat sich 1933 einigen Gedichten Haringers kompositorisch angenommen („Sommermüd“ 1932, „Tot“ 1930, Mädchenlied 1930), auch ein gewisser Richard Gress (1893-1988) hat bereits 1927 Lieder nach Haringer- Texten komponiert (auch Texte von Heinrich Heine, Hermann Hesse, Ricarda Huch vertont). Wie Werner Amstad bereits 1966 berichtet, hatte Haringer — aus welchen Gründen immer — Lust und Freude daran, zahlreiche, auch handschriftliche „Büchlein“ aus seiner literarischen Werkstatt zusammen zu stellen (allesamt im Nachlass vorhanden, freilich nie publiziert), etwa für Freunde wie Hermann Hesse, Richard Doetsch-Benziger, P. Trautvetter oder Rudolf Adrian Dietrich, und dachte sich gigantomanisch anmutende Editionen seiner noch zu publizierenden Werke aus, etwa ,,Die gesammelten Werke in 10 Bänden“ oder ab 1921 die „Dreißig Werke“ — Opern, Puppenspiele, Schauspiele, Sonette, Kantaten, Romane, Translationen, Essays, philosophische Schriften). Haringer war kein Niemand und ein harter Arbeiter — bei aller äußerlichen Skurrilität. Wer sich also mit Jakob Haringer heute beschäftigt, hat mit Blick auf die Publikations- und Rezeptionssituation und den differenzierten Forschungsstand die eigenen Erkenntnisinteressen und das damit zu verbindende Konzept gründlich zu überlegen. Die Ansprüche sind demnach erheblich, um nicht ohnehin Bekanntes neu aufzuwärmen oder Irrelevantes als relevant zu verkaufen. Braeg legt sich die Latte ziemlich hoch, wenn er vollmundig verspricht, dass sowohl die „Auswahl seiner [Haringers] Prosa und Dichtung“, die er im zweiten Teil seines Buches, in seiner Auswahl-Edition, anbietet, als auch die „Suche nach Zeugen und Bekundungen seines Lebens und seines Lebenswandels [...] uns erlauben, einen tieferen Blick in diese Dichterseele zu werfen“ (S. 7) Kann er das tatsächlich leisten? Es sei vorweggenommen — zwischen Versprechen und Geleistetem tut sich schließlich wegen unterschiedlich gelagerter Defizite eine erhebliche Kluft auf. Braegs Haringer-Buch kann letztlich trotz offenbar groß, aber eben nicht punktgenau betriebenen und meist bloß an biographischen Details interessierten Rechercheaufwands (z. B. Staatsarchiv München, Landesarchiv und UB Salzburg, Doku Wien, Brenner-Archiv Innsbruck; diverse Gemeinde- und Stadtarchive, Privatsammlung Weinek — Meldescheine, Polizeiberichte, Grundbucheintragung, Verwaltungsmaterial hier und dort - dass es ein Archiv des „Salzburger Volksblattes“ geben soll, ist freilich ein Braegscher „Grubenhund“; Erkundungen offensichtlich auch auf ANNO, der Zeitungs- und Zeitschriften-Online-Plattform der ÖNB; Zentrum für verfolgte Künste/Solingen) bloß Ergänzendes, wenn nicht gar nur Marginales liefern —Substantielles weder zu Haringers Lebensweg noch zu Haringers literarischem Werk. Zur Erhellung des literarischen Werkes kann Braeg fast gar nichts beitragen, schlicht deswegen, weil er sich eines analytischen oder auch vertiefenden bibliographischen Zugangs zum literarischen Werk weitgehend enthält. Aber diese Aspekte wären äußerst lohnende Aufgaben gewesen. Konzediert sei zugleich, dass Braeg in seine Auswahl-Edition (S. 93-242) einige Prosa- und Lyrik-Texte Haringers aufnimmt, die auch in den wichtigsten Editionen nach 1945 nicht mehr auftauchen. Braeg gliedert sein Buch in vier Groß-Abschnitte: Im ersten Teil („Leben“, S. 10-90) erleben wir Braeg als Biographen Haringers. In den nächsten beiden Abschnitten betätigt er sich als Herausgeber ausgewählter Texte Haringers — neun Prosatexte und 78 Beispiele lyrischer Texte, allesamt bereits veröffentlicht, wenn auch einige schwer zugänglich, darunter auch Haringers „Umdichtung“ von Villons „Le Testament“ (1928) werden abgedruckt (S. 91-240). Sodann folgt das Kapitel „Anhang“, das eigentlich das innovativste ist. Denn Braeg bietet verdienstvollerweise einige in verschiedenen Archiven aufgefundene, bisher unpublizierte Sekundär-Materialien zur Lebensgeschichte Haringers an: z.B. Theodor Sappers undatierte Erinnerungen an seine frühen Begegnungen mit Haringer seit den 1920er Jahren, die Werner Amstad 1966 offenbar nur vom Hörensagen kannte, obwohl er mit Sapper in Verbindung stand; weiters Passagen aus einem privaten, freilich eher unerheblichen Briefwechsel mit Haringers Kindesmutter Hertha Grigat aus den Jahren 1931/32; diverse Justizakten mit Briefen Haringers und der Nennung einiger prominenter Bürgen, u.a. Heinrich Mann, Hans Carossa, Karl Muth; auch ein beklemmendes psychiatrisches Gutachten aus 1931 an das Landgericht September 2020 87