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Ein weiterer Diskussionsfall war Peter Handke, der wie Karl May „die Indianer“ als Projektionsfläche verwendete. Die Belagerung Sarajevos beschrieb er so, dass die Truppen der Republika Srpska als Freiheitskämpfer gedeutet wurden: „Erscheinen nicht auch in den Western die bösen Indianer oben auf den Felsklippen, die friedlichen Ami-Karawanen überfallend und metzelnd — und kämpfen die Indianer nicht doch um ihre Freiheit?“ Die Projektion deflektiert von den Indianern auf „die Serben“, für Handke die edlen Wilden Europas: „Wird man einmal, bald, wer?, die Serben von Bosnien auch als solche Indianer entdecken?“ Der Gestus des tastenden Fragens verschleiert nicht, dass es sich hier um eine ziemlich starke Insinuation handelt. Dabei greift Handke die Fiktion vom Western-Indianer an und erhebt im selben Moment die Fiktion vom edlen Balkan-Indianer zur (doch auch möglichen?) Realität. Er ist stolz darauf, das flmische Klischee zu durchschauen und überträgt dieses berechtigte Anzweifeln auf eine völlig andere Situation. Die Berichterstattung der Medien hat für ihn denselben Stellenwert wie ein Hollywood-Drehbuch: alles Erfindung, alles Propaganda. Auch hier sind real existierende Menschen betroffen, die ehemaligen Eingeschlossenen von Sarajevo, die sich gegen ein solches Infragestellen des von ihnen Erlebten wehren. Die Behauptung, Literatur könne eine „höhere Wahrheit“ aufzeigen, ist einerseits richtig und andererseits heikel. Richtig ist sie in dem Sinne, dass Literatur uns die Augen öffnen und einen Erkenntnisgewinn bescheren kann. Im Falle völligen Realitätsverlustes dagegen gebärdet sie sich unter Umständen wie eine Religion. Die Erde ist viele Millionen Jahre alt? Nein, die höhere Wahrheit ist, sie ist erst ein paar tausend Jahre alt. Das besonders Heikle bei Schriftstellern ist, dass sie haarsträubenden Unfug oft schr schön auszudrücken vermögen. Ist das Geraune nur gülden genug, wird es verführerisch. Darf man es nicht mehr hinterfragen, weil Literatur sakrosankt ist, ist man nicht weit vom religiösen Führer entfernt, der in den Augen seiner Anhänger zwangsläufig recht hat, weil er so schön zu predigen vermag. Wirklichkeit „Wer nichts weiß, muss alles glauben“, lautet ein Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach. In den Naturwissenschaften wird Wissen durch ständiges Hinterfragen etabliert. Doch Falsifikation und Diskursanalyse bedeuten nicht, dass alles irgendwie relativ ist, dass jeder selbst bestimmen kann, was Wissenschaft ist, dass es am Ende keine Fakten gibt. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Glaube von einem Nebeneinander an mehreren „alternativen Fakten“ besonders in den USA um sich greift, wo an manchen Schulen neben (oder statt) der Evolutionstheorie auch die Schöpfungsgeschichte unterrichtet wird. Die ersten Siedler waren oft Mitglieder religiöser Gruppierungen, die in Europa verfolgt wurden. Die daraus erwachsene schöne Tradition der Religionsfreiheit führt jedoch in ihren extremsten Auswüchsen dazu, dass die Wissenschaft als etwas angesehen wird, was man einfach hinwegglauben kann. Klimawandel? Glaub ich nicht. Corona? Glaub ich nicht. CNN-Berichte? Glaub ich nicht. In einer solchen Welt gibt es keinen Halt mehr. Verschwérungstheorien stehen auf einer Ebene mit seriösem Journalismus, demokratisch gewählte Politiker halten sich für Ärzte und regen die Injektion von Desinfektionsmitteln an oder schütteln die Hände von Covid-19-Infizierten. In einer solchen Welt tun Schriftsteller gut daran, Fiktion als solche klar zu deklarieren und nicht in Formen zu überführen, wo man sie für wahr hält und damit am Ende die Wahrheit für Erfindung. Denn gerade Schriftsteller wissen genau, wo sie welches Element der Realität adaptieren, um es für einen literarischen Text nutzbar zu machen. So werden fiktionale Charaktere oft aus realen „gemorpht“. Man nimmt die Optik des einen, den Beruf des anderen, die Pingeligkeit des dritten und legt ihm ein schönes Zitat der Schwiegermutter in den Mund. Männer schreiben über Frauen, Frauen über Männer, Fünfzigjährige über Kinder, Zeitgenossen über historische Figuren, Arme über Reiche (oder noch viel Ärmere), Menschen, die keiner Fliege etwas zuleide tun können, über Mörder. Auch wenn ein Bonmot behauptet, man solle nur über Dinge schreiben, die man wirklich gut kennt, ist das kaum durchzuhalten, denn dann würden Schriftsteller nur über Schriftsteller schreiben. Man eignet sich zwangsläufig fremde Realitäten an und kann dabei durchaus in kritisches Fahrwasser geraten. Wer auch immer der Herr war, der die Freuden der minderjährigen Mutzenbacher aus ihrer Perspektive verfasste, hat seine Wunschfantasien projiziert. Alexandre Dumas beschrieb die Kameliendame zwar tragisch, aber doch glamourös. Ein wesentlich deprimierenderes Bild der Prostitution im neunzehnten Jahrhundert lässt sich in den weitgehend vergessenen Büchern von Frauen nachlesen: „Der heilige Skarabäus“ von Else Jerusalem oder „Tagebuch einer Verlorenen“ von Margarethe Böhme. Auch stellt sich die Frage der kulturellen Appropriation. Heutzutage würde sich wohl niemand mehr anmaßen, über die Erfahrung eines Native American zu schreiben, ohne selbst einer zu sein. Wo genau die Grenzen zu ziehen sind, wird immer wieder neu diskutiert und muss wohl jeder Autor für sich entscheiden. So wurde etwa Jeffrey Eugenides nach dem Erscheinen seines Romanes „Middlesex“ dafür kritisiert, dass er sich die Erfahrung einer intersexuellen Person vorgestellt hatte. Dabei kann die Zeit die Grenzen verschieben. Mit zunehmender Gleichberechtigung nahm die Diskussion ab, ob Männer weibliche Standpunkte glaubwürdig darstellen können. Ebenso wären in den Achtzigerjahren Hetero-Autoren, die aus der Perspektive schwuler Protagonisten schreiben, zumindest fragwürdig gewesen, heute regt das kaum jemanden mehr auf. Nicht nur ist das Fluktuieren in der sexuellen Orientierung leichter geworden, die Situation Homosexueller in unserem Kulturkreis hat sich in den letzten Jahrzehnten auch deutlich entspannt. Je traumatischer die reale Erfahrung der Betroffenen, desto problematischer die Appropriation. Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen Fiktion und Leben ist, dass im narrativen Konstrukt alles einen Sinn hat. Im wahren Leben verlaufen die Dinge anders. Da hängt vielleicht im ersten Akt ein Gewehr an der Wand, das nicht spätestens im dritten abgefeuert wird. Eine Begegnung im Zug treibt die fiktive Geschichte voran, während sie in der Wirklichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit im Sande verläuft. Auch der Faktor Zeit verhält sich anders. Im Roman sind zwei oder zehn oder zwanzig Jahre mühelos zu überspringen. Man kann leidige Alltäglichkeiten, wie Putzen oder Aufsklogehen, ausklammern, muss es sogar. Sex im Film geht ganz schnell, er muss ökonomisch sein. Fünfundvierzig Minuten Vorspiel würden eine Neunzig-Minuten-Geschichte Oktober 2020 5