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sprengen. Die Leute reißen sich daher meistens nach kurzem Kuss die Kleider vom Leib. Auch sterben in einem Buch oder Film die Menschen nicht wirklich. Man braucht nur zurück zum Anfang zu gehen, und sie sind wieder da. Permanenter Fiktionskonsum birgt die subtile Gefahr, dass zwischen Realität und Erfundenem nicht mehr genau unterschieden wird. Wer zu viele Liebesgeschichten gelesen hat, ist mitunter frustriert, wenn ihm solche perfekten Wunder vorenthalten werden. Wer zu viele Pandemiefilme gesehen hat, glaubt vielleicht nicht mehr, dass so etwas wirklich passieren kann — die reale Pandemie steht dann fiir ihn auf einer Glaubwiirdigkeitsebene mit der Zombie-Apokalypse. Wer zu viele Uberwachungsstaatdystopien konsumiert hat, beschäftigt sich gar nicht mehr mit der Frage, ob eine konkrete Contact-Tracing-App tatsächlich so funktioniert wie in diesen (oder damit, dass keine teuflische Regierung der Welt ihre Bürger dazu bringen müsste, eine App zu installieren, um auf Bewegungsdaten zuzugreifen oder Gespräche abzuhören - das geht nämlich auch so.) Das narrative Konstrukt hat den Vorteil, dass es in kurzer Zeit einen Bogen spannt, eine Handlung entwirft, zum Höhepunkt und zum Ende führt - anders als das wirkliche Leben, das vom Zufall gebeutelt auf und ab schaukelt. Die bereichernde, erhebende und manchmal sogar therapeutische Qualität guter Literatur beruht ja sogar darauf, dass sie in diesem Sinne „besser“ als die Wirklichkeit ist. Deshalb tut ein Realitätsabgleich gut, auch beim Lesen, und das ist unterschiedlich schwer. Jedem ist klar, dass am Attersee nicht wirklich so viele Menschen ermordet werden wie im österreichischen Krimi. Aber es gibt in unserem Leben keinen Christiana Puschak Osterreichische Frauen am Bauhaus großen Erzähler, der am Ende die Fäden sinnvoll zusammenführt. (Genau dieses zutiefst menschliche Bedürfnis nach einem solchen Erzähler, der unser Schicksal kennt und einen Plan für uns hat, begründet den Reiz der Religion.) Und so kann das Lesen allzu vieler Geschichten dazu führen, dass man ein bisschen enttäuscht ist, dass sich im eigenen Leben nicht immer alles so fügt. Für uns Schriftsteller bedeutet das, dass wir in unserer Arbeit darauf achten müssen, dass die Schnittstellen zwischen Erfindung und Realität sauber bleiben. Wir müssen davon Abstand nehmen, die gestalterische Macht, die uns durch eine Fiktion hindurchträgt, aufandere Bereiche ausdehnen zu wollen. Die Freiheit der Kunst anzurufen, wenn es um faktische Behauptungen geht, ist zumindest unlauter. Denn die Wirklichkeit umschreiben können wir nicht. Bettina Balaka, geb. in Salzburg, lebt als freie Schriftstellerin in Wien, schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays, Literaturkritiken, Theaterstücke und Hörspiele. Ausgezeichnet unter anderem mit dem Salzburger Lyrikpreis, Österreich-1-Essay-Preis, Friedrich Schiedel-Literaturpreis, Elias-Canetti-Stipendium, Georg-TraklFörderungspreis für Lyrik. Zuletzt erschienen: „Unter Menschen“, Roman, Suhrkamp Insel Verlag, Berlin 2016, „Die Prinzessin von Arborio“, Haymon Verlag, Innsbruck — Wien 2016, „Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit“, Essays, Haymon Verlag, Innsbruck — Wien 2018, „Die Tauben von Brünn“, Roman, Deuticke Verlag, Wien 2019. www. balaka.at Man muss den geheimnissen des stoffes lauschen (Ott Berger) Noch immer weiß die Forschung und erst recht die Öffentlichkeit hierzulande viel zu wenig über die Frauen des Bauhauses: „Denn diese Frauen wurden weniger als Individuen geschen, sondern mehr als Repräsentanten des weiblichen Geschlechts.“ Nach wie vor berechtigt ist die Kritik von Lucia Moholy am „Meisterkult“ und an der geringen Wertschätzung der Frauen: „Über die Meister selbst ist zu viel geschrieben worden, als dass hier von ihnen die Rede sein müsste.“ Dass dies sich allmählich ändert, soll in einem Rück- und Ausblick anlässlich des vorjährigen Bauhaus-Jubiläums beleuchtet werden. 1919 hatte das Bauhaus seine Pforten für männliche und weibliche Studierende geöffnet und ebnete damit Frauen einen Weg in neue Berufe und Kunstformen, in ein „riesiges Experimentierfeld“. Fotografinnen, Keramikerinnen, Architektinnen und Weberinnen konnten nun in Bereiche vordringen, die ihnen vorher verschlossen waren. „Die erste Tat des Bauhauses war, alle feststehenden Anschauungen über Leben und Dinge einzureißen [...], eine neue Welt in sich aufzubauen“. Dies schrieb die Designerin und ehemalige Bauhausschülerin Lisbeth Oestreicher. Die gebürtige Wienerin 6 _ ZWISCHENWELT gehörte zu den vielen, für die das Bauhaus neben einer Ausbildungsstätte eine „Schule für das Leben“ gewesen ist. Der Andrang von Frauen ans Bauhaus war enorm — auch wegen der Atmosphäre dort. Unkonventionell war der Umgang mit Themen und Materialien. Es gab einen regen Austausch und eine große Offenheit für neue Ideen. Insbesondere Frauen sahen hier eine Chance, ihre Kreativität zu entwickeln und dabei eine gute Ausbildung zu erhalten. An den drei Standorten des Bauhauses Weimar, Dessau und Berlin waren in der Zeit zwischen 1919 und 1933 ein Drittel der Schüler und Lehrer weiblich. Dies spiegelte sich lange Zeit weder in der Literatur noch in den Medien wider. Die Kunst- und Designprofessorin Anja Baumhoff hatte in ihrem grundlegenden Werk „Ihe Gendered World of the Bauhaus“ nachgewiesen, dass die Anzahl der weiblichen Schüler am Bauhaus gezielt reduziert wurde. Zu groß waren die Vorbehalte eines Teils der Lehrer gegenüber weiblichen Auszubildenden, zu groß die Befürchtung, dass die hohe Anzahl von Frauen dem Renommee der Schule schaden könnte, zu groß die Furcht, die finanziellen Zuwendungen könnten versiegen. So kam cs, dass die Bauhausleitung nur noch „außerordentlich begabte Frauen“ aufnahm. Es entstanden Rivalitäten, manche Bereiche wie die Textilwerkstatt und die Fotografie erhielten das Etikett „weiblich“. Nur wenigen gelang