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Reichsmark und ein Köfferchen auf die mehrere Tage dauernde Reise mitnehmen. Er ist widerstandsfähig, verkraftet das Trauma der Flucht; er lernt rasch Schwedisch, besonders bei Gastfamilien, von denen er öfter flüchtet. Erstmals muss er sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten und Aushilfsjobs verdienen. Die Beschäftigung in der Dunkelkammer eines Fotografen lässt „meine Hände ganz schwarz“ werden, schreibt er in einem Brief an die Schwester Edith. Die Mosaiska Församlingen (Jüdische Gemeinde in Stockholm) hilft: mit Empfehlungen, regelmäßigen Gesprächen und kleinen finanziellen Unterstützungen. Zu den zahlreichen Vorsprachen und Ansuchen um Aufenthaltsbewilligung kommt die ständige Geldnot — Fritz muss bei der jüdischen Gemeinde sogar um einen Zuschuss für ein Paar neue Winterschuhe betteln. Demütigende Äußerungen von Arbeitgebern und Mitmenschen erlebt Fritz laufend. Auf einem Spaziergang mit einer Jugendliebe sagt jemand zu seiner Begleitung: „Was hat so ein hübsches schwedisches Mädchen mit einem dreckigen Juden zu tun?“ Die Sehnsucht nach seiner Familie und das Ende dieser Jugendliebe zermürben den jugendlichen Fritz. Er wird in ein Spital in Stockholm gebracht, aus dem er nach einigen Monaten entlassen werden kann. Schächter, der Künstler Mit etwa 19 Jahren — die Unterlagen sind hier nicht ganz klar — übersiedelt er nach Göteborg und beginnt zu malen. Er wird von Mäzenen weiterempfohlen und kann sich mit Porträtmalen einige Zeit seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. In einer Regionalzeitung wird eines seiner Werke in einer Sammelausstellung gelobt. Er nimmt Kontakt mit schwedischen Malern auf, lernt dabei auch Thomas Mann kennen und organisiert sich Privatunterricht bei schwedischen Malern wie Ragnar Sandberg und Isaac Grünewald. In der vom gleich ihm exilierten Grafiker Hugo Steiner-Prag gegründeten Schule für Buch- und Werbekunst kann Fritz studieren. Werke und Selbstporträts von Schächter finden sich in Dänemark und in Deutschland, wie mir die Nachkommen der Sammler von Schächters Werken schreiben. Schächter, der Erfinder „Ich will kein Sonntagsmaler werden“, schreibt Schächter an seinen Exilanten-Freund Gerhard Brutzkus und beginnt in der Fahrradwerkstatt eines schwedischen Freundes zu basteln. Er setzt seine handwerklichen Fähigkeiten an einer alten Drehbank ein. Ein anderer Exilant, Eugen Spitzer, Unternehmer aus Wien, wird auf ihn, seine Intelligenz und Geschicklichkeit aufmerksam und regt ihn an, doch sein Können an einem der bereits am Markt befindlichen modernen Kugelschreiber — patzende, tropfende, kratzende Schreibgeräte — zu erproben. Schächter sucht und findet Verbesserungsmöglichkeiten. Bereits nach sechs Wochen hat er den Kuli verbessert und reicht gemeinsam mit Eugen Spitzer eines seiner ersten Patente ein. Spitzer gründet 1945 AB Romo, die Vorläuferfirma von BALLOGRAE Viktor Reich, Bauingenieur und ebenfalls Exilant aus Wien, gründet mit Schächter und Spitzer 1947 die Firma BALLOGRAE deren Entwicklungsleiter Schächter einige Jahre bleiben wird. Von Göteborg aus geht er zu PAPER MATE, Produzent von Schreibgeräten, in die USA und leitet die Abteilung „experimental“. Walter Spatz, der Chefdesigner in der Kugelschreiberfirma, empfiehlt ihn in den 1950er Jahren dem Kugelschreiberfabrikanten und Erfinder Paul C. Fisher mit den Worten „Ich hätte da einen fähigen jungen Mann“. Mit Paul €. Fisher gründet Friedrich Schächter 1957 die SCHAECHTER RESEARCH in Van Nuys, Kalifornien. Schächters beruflicher Weg ist keine lineare Entwicklung. Er ist zeitweise parallel Angestellter und freiberuflich tätig, was in der Schreibgerätebranche keine Seltenheit war. Fisher und Schächter haben unabhängig voneinander schon lange die Idee eines fehlerlosen Schreibgeräts, das darüber hinaus auch in der Schwerelosigkeit funktionieren soll. Zehn Jahre intensive Forschungsarbeit der beiden folgen, an deren Ende der von der NASA akzeptierte Weltraumkuli, SPACE PEN, steht. Eine Million US-Dollar investiert Fisher in die Entwicklung dieser berühmten Erfindung. Fisher steuert das Rezept für die neuartige pastenähnliche Tinte bei, Schächter erfindet die kleine Gaspatrone in der Mine, die die Tinte zur Kugel drückt. Als die NASA für die Qualitätsprüfung ein Gerät zusätzlich anfordert, entwickelt Schächter um 1963 seine bekannteste Erfindung, die Kugelschreiberprüfmaschine MINITEK PSU 10. Alle großen Schreibgeräteproduzenten kaufen sie, bis heute noch wird sie von der Mehrzahl der Unternehmen zur Prüfung von Kugelschreibern, Füllfedern und Faserstiften verwendet. Wie funktioniert diese Maschine? In die PSU 10 werden zehn Minen eingespannt, die sich langsam drehen. Unter ihnen, die ein spiralartiges Muster auf die Unterlage zeichnen, werden lange Papierstreifen durchgezogen. Winzige Abweichungen, Auslassungen und Patzer geben Hinweise auf die Qualität der Minen. Das Spezialpapier, das seinen Ansprüchen genügte, findet Schächter bei einem kleinen italienischen Papierhersteller. Von den Papierbahnen lässt er breite Randstiicke abschneiden, er will verhindern, dass eine eventuelle minimal größere Papierdicke an den Rändern die Messergebnisse beeinflussen könnte... Schächter wird in 168 Patenten als Erfinder genannt: hauptsächlich betreffen diese die Mine mit der Spitze im Kugelschreiber, bei einem Teil geht es auch um Nassrasierer und Gasfeuerzeuge. Schächter, der Unternehmer Nach Ende des Zweiten Weltkriegs remigriert er nach Europa und gründet mit Per Wenander, einem schwedischen Geschäftsfreund, Oktober 2020 11