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der jüdische Friedhof Untergetauchten vorrübergehend Schutz in versteckten Winkeln der Mausoleen. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik hat jedoch auch vor den jüdischen Friedhöfen nicht haltgemacht. Besonders außerhalb der vorherigen deutschen Landesgrenzen wurden jüdische Friedhöfe zum Schauplatz von Selektionen und Hinrichtungen. Am besten dokumentiert und lückenlos belegbar ist der Massenmord an den Juden von Stanislau am 12. Oktober 1941. Von den 20.000 Juden und Jüdinnen, die zum jüdischen Friedhof und den dort vorbereiteten Massengräbern getrieben wurden, sind allein an diesem „Blutsonntag“ 12.000 ermordet worden.’ Neben den Massenvernichtungsverbrechen wirken die Zerstörung, Schändung und Demontage der jüdischen Friedhöfe wie Kavaliersdelikte, sollten jedoch als Teil der systematischen antisemitischen Vernichtungspolitik, die neben den Menschen auch jegliche Erinnerung an sie auszulöschen suchte, nicht unterschätzt werden. Die zerstörten Friedhöfe sind heute eine Chiffre für den Verlust von jüdischen Gemeinden, die „als einzigartiges Phänomen in der Weltgeschichte“ ihre Gesetze „über Jahrtausende hinweg durch ständiges Studium zu bewahren verstanden“. Die Bedeutung der jüdischen Friedhöfe findet unter anderem durch ihre literarische Gestaltung Eingang ins kulturelle Gedächtnis: Der Friedhof von Sereth im Nordosten Rumäniens beispielsweise wird bei Soma Morgenstern oder Leo Katz zum Schauplatz antisemitischer Verfolgung, die in Bezug auf diesen konkreten Ort zwar der historischen Grundlage entbehrt, gleichzeitig aber paradigmatisch ist für die historisch belegten Ereignisse auf jüdischen Friedhöfen im Kontext von Judenverfolgungen: „Ist der Friedhof bei Morgenstern letzte Zuflucht der verfolgten Juden, wird er bei Katz von den Verfolgern als Sammellager für die dem Tode geweihten Juden mißbraucht. Das eine wie das andere hat sich im christlichen Abendland immer wieder ereignet, ob in der Reichsstadt Frankfurt am Main zu Zeiten eines Vinzenz Fettmilch und eines Kaisers Matthias, ob in dem Vernichtungskrieg, den Hitlerdeutschland 1939 bis 1945 im Osten Europas führte, so bei den Massenerschießungen im ostgalizischen Stanislau, nicht allzuweit von Sereth, und im Zuge der Ausrottung des größten Teils der jüdischen Bevölkerung Weifrusslands.“’ Auch der Bedeutungswandel der zerstörten und verfallenen jüdischen Friedhöfe und ihrer Überreste in der Gegenwart wird in der Literatur verhandelt. In zwei Texten der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wird der zerstörte Friedhof zum Bild verlorenen Raumes und verlorener Zeit und eines unwiederbringlichen Verlustes. Die Erzähltexte Wie kommt der Krieg ins Kind (2018) von Susanne Fritz und Vielleicht Esther (2014) von Katja Petrowskaja schildern die Recherchen der Autorinnen zu den eigenen Familiengeschichten. Während Fritz das Leben ihrer Mutter fokussiert, die 1945 verhaftet und als Angehörige der deutschen Minderheit in Polen in ein Arbeitslager gebracht wird, erzählt Petrowskaja die Geschichte ihrer jüdischen Familie in Polen und der Ukraine über sechs Generationen hinweg, wobei ein Schwerpunkt auf der Erfahrung antisemitischer Verfolgung und Vernichtung während des Zweiten Weltkrieges liegt. In beiden Geschichten, die die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, streifen die recherchierenden Protagonistinnen nicht zufällig auch an die Geschichte der zerstörten jüdischen Friedhöfe in Polen. Susanne Fritz rekonstruiert die Geschichte des jüdischen Friedhofs von Schwersenz, einem jüdischen Schtetl, in dem sich vor allem im 16. Jahrhundert aus dem nahegelegenen Poznan/Posen geflohene Juden angesiedelt hatten. Der Friedhof wird schon 1925 von dem dort geborenen Rabbiner Saul Katz als verlassen und verwittert beschrieben, da viele Juden aus der Posener Region abgewandert sind, vertrieben oder ermordet wurden. Fritz zitiert den Rabbiner: „Der Fremde, der diese weite Grabstätte erblickt, [...] wird wohl leicht den Schluss ziehen, dass Schwersenz eine große jüdische Gemeinde aufweise [...]. Dem ist allerdings nicht so. Aber Friedhof und Synagoge sind [...] Zeugen dessen, was einstmals war. [...] Die Steine und die Stätten künden von einer entschwundenen Zeit, da ein intensives und reiches jüdisches Leben dort herrschte.“® An die Beschreibung des Rabbiners schließt Fritz direkt mit der weiteren Geschichte des Friedhofes an: „Heute sind die von der entschwundenen Zeit zeugenden Steine und Stätten selbst entschwunden. [...] Unter den Nazis wurde der jüdische Friedhof plattgemacht, wurden die Grabsteine aus der Erde gestemmt, der ein oder andere Schädel, der ein oder andere Knochen kam nach oben, es wurde Fußball gespielt und es wurden Stöckchen geschleudert und von Hunden apportiert; jüdische Häftlinge, beschrieben als wandelnde Skelette, schotterten mit den zu Kies zertriimmerten Grabsteinen Wege, Straßen und vor allem die neue Bahntrasse, wahrend polnische Kinder dazu gezwungen wurden, den Mörtel von den Ziegelsteinen zu schlagen und sie mit ihren blutig geschundenen Händchen zur Wiederverwertung säuberlich aufzuschichten. Aufdem planierten jüdischen Grabhügel entstand ein Park und Naherholungsgebiet, ein Schild warnte die Unbefugten: Nur für Deutsche. Mit der nächsten Drehung des Kaleidoskops verschwindet auch dieses Warnschild wie die Menschen, die es einst aufstellten. Nach Kriegsende wird auf dem malerischen Areal ein Kindergarten gebaut, über die Wiese tollen heute kleine Menschen.“ Die Geschichte des Friedhofs bildet die Grundlage, um von der Gewalt der deutschen Besatzung ebenso zu erzählen wie vom Vergessen. Nichts außer der Beschreibung des Rabbiners Saul Katz erinnert noch an den jüdischen Friedhof. In Katja Petrowskajas Geschichten Vielleicht Esther kommen die Überreste des jüdischen Friedhofs von Kalisz nur durch Zufall wieder zum Vorschein: Wie in einigen anderen polnischen Städten auch wurden in Kalisz während des Zweiten Weltkrieges die Grabsteine der jüdischen Friedhöfe in Quader zersägt und, unkenntlich mit der Rückseite nach oben, für das Pflastern der Straßen verwendet.!® Bei späteren Bauarbeiten wurden die Steine teilweise umgedreht wieder eingesetzt und „die hebräischen Buchstaben kamen zum Vorschein“ '!. Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach diesen Steinen, diesen vereinzelten Bruchstücken der ehemaligen Grabsteine: „Ich entdeckte zwei oder drei, dann zwanzig Meter nichts, dann wieder ein Buchstabenstein, drei Meter weiter noch ein paar, ein Glücksspiel, dessen Regeln niemand festgelegt hat und das jedem offensteht, ein Memory für Erwachsene, aber niemand spielte mit, denn niemand sah diese Buchstaben. [...] Ich ging von Haus zu Haus, von Stein zu Stein, hier hatte jemand der Meinigen gewohnt, dort ein Kino, eine Druckerei, ein Buchstabe, es nieselte, ich sammelte, noch einer, hier wieder einer, ich unternahm eine fragwürdige Restitution von verschwundenen Dingen, die ich nicht haben und nicht deuten konnte.“'? Diese Reste sind Überbleibsel, die zufällig wieder sichtbar, mitnichten jedoch wieder lesbar geworden sind.'? Dennoch sind genau diese minimalen Spuren des Verschwundenen von Anfang an als Ziel der Reise der Erzählerin deklariert worden — „falls man den Drang, nach Verschwundenem zu suchen, überhaupt als Ziel Oktober 2020 13