definieren dürfe“'*. Der Fokus der Erzählung liegt nicht so sehr
auf dem „Wunsch, hier etwas zu finden“? als aufder Suche nach
dem Verschwundenen, dem es zu eigen ist, nicht mehr gefunden
werden zu können. Das Grab eines Angehörigen der Erzählerin, so
klärt eine ortskundige Historikerin diese auf, „es ist nicht erhalten
geblieben, aber das sagte sie so, als genüge es zu wissen, dass es
einmal da gewesen ist, um es zu besitzen. “'°
Der Friedhof ist nicht mehr der Ort des Gedenkens an eine dort
begrabene Person. Die Überreste der zerstörten oder verfallenen
jüdischen Friedhöfe — und sei ihre ehemalige Existenz auch nur
noch auf dem Papier verbürgt— können nur noch eine Idee davon
geben, dass hier ein Ort gewesen wäre, an dem Menschen, die nur
in den seltensten Fällen überleben und gar dorthin zurückkehren
konnten, jemandes hätten gedenken können. Mit den Texten von
Petrowskaja und Fritz eröffnet sich ein neuer Erinnerungsraum,
der mit der Spurensuche der Protagonistinnen nach den zerstörten
Grabstätten der verlorenen Gedenkorte gedenkt.
Exkurs: Jüdische Friedhöfe in Wien als Spiegel der Gewalt
An der Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien lässt sich
das Schicksal der jüdischen Gemeinschaft hier ablesen. Es zeigt
sich die über Jahrhunderte währende schrittweise Verdrängung
aus dem Zentrum genauso wie die stadtbauliche Nichtachtung
der „Auffassung von der absoluten Unverletzlichkeit des Grabes
und der Totenruhe“'’, darüber hinaus die Preisgabe an das Ver¬
gessen durch den Verfall der Grabstätten und die Zerstörungswut
rechtsextremer Vandalen.
Dass jüdische Friedhöfe mutwillig zerstört und die Grabsteine
anderweitig verwendet wurden — wie während des Zweiten Welt¬
krieges in Kalisz — hat eine jahrhundertelange und weit verbreitete
Tradition. Immer wieder werden Spuren dieser Zweckentfrem¬
dung entdeckt, wie beispielsweise im westfälischen Münster: „Die
1350 vom Friedhof entwendeten Grabsteine wurden vor allem
für öffentliche Bauten verwendet, für die Stadtmauer, die Toran¬
lagen sowie für mindestens zwei Kirchen. Dieses Vorgehen war
allgemein üblich und ist durch Funde solcher Spolien in vielen
deutschen Städten nachweisbar.“'®
Auch in Wien sind den jüdischen Friedhöfen Grabsteine ent¬
wendet und verbaut sowie die Friedhofsgelände bebaut worden.
Der Versuch, den Weg dieser Steine zu rekonstruieren, macht
nicht nur eine Verfolgungsgeschichte Wiener Jüdinnen und Juden
offenbar, sondern beschreibt — der Gesetze der Unverletzlichkeit
der Gräber zum Irotz - eine Exilgeschichte dieser Grabmale. Zwar
waren Steine des ältesten jüdischen Friedhofes in Wien aus dem
13. Jahrhundert für Häuserbauten in Gumpendorf verwendet
worden, weitere Überreste allerdings, die man beim Bau der Neuen
Hofburg fand, wurden in die Mauer des Friedhofes in der Seegasse
eingelassen.'” Auch von dort wurden 1943 einige der Grabsteine
evakuiert, die von den Nazis zur Wiederverwertung freigegeben
worden waren. Sie wurden auf den Zentralfriedhof gebracht, auf
den außerdem jüdische Gräber bedeutender Persönlichkeiten vom
Friedhof Währing umgebettet wurden, da dort etwa 2000 Gräber
beim Bau eines Luftschutzbunkers zerstört wurden.”
Dieser Exilort, die israelitische Abteilung des Zentralfried¬
hofs bietet heute wiederum ein Bild der Zerstörung. Der oft
als malerisch empfundene Ort ist verwildert und verwachsen,
viele Grabsteine sind umgekippt, zerbrochen oder mutwillig be¬
schädigt worden. Ein beeindruckendes, als Oktogon gestaltetes
Heldendenkmal ist den jüdischen Kämpfern im Ersten Weltkrieg
gewidmet; eine Gedenktafel erinnert an diejenigen, die in der
k.u.k.-Armee gedient hatten und Opfer der Shoah geworden
sind. An der Friedhofsmauer entlang türmen sich Trümmer von
Grabsteinen. Die Schutthalde macht den Eindruck des Friedhofes
eines Friedhofes. Eine Tafel der Israelitischen Kultusgemeinde
erklärt: „Hier liegen Teile von Grabsteinen, die bei mehreren
Bombenangriffen während des Zweiten Weltkrieges beschädigt
wurden und deren dazugehörigen Grabstellen nicht mehr eruiert
werden konnten.“ Der Friedhof ist das Denkmal seiner Zerstö¬
rung geworden.
Sanna Schulte, geb. 1985 in Münster, promovierte an der Uni¬
versität Aachen mit einer Dissertation zu Herta Müllers Poetologie.
Als Franz Werfel-Stipendiatin nach Wien gekommen. Arbeitete am
Literaturarchiv der ÖNB und lehrt an der Universität Wien. For¬
schungsschwerpunkte: Erinnerungsliteratur, NestbeschmutzerInnen,
das Kabarett der 20er Jahre, die Wiener Gruppe.
1 Vgl. From a Ruined Garden. The Memorial Books of Polish Jewry. Second,
Expanded edition. Edited and Translated by Jack Kugelmass and Jonathan
Boyarin. Indiana 1998. Und: Marianne Windsperger: Lebenszusammen¬
hänge sichern: Yizker bikher als portable Archive in transgenerationeller
Perspektive. In: Exil interdisziplinär 2. Hg. v. Sanna Schulte und Christian
Zech, Würzburg 2018, S. 119-133.
2 Werner TT. Bauer: Wiener Friedhofsführer. Genaue Beschreibung sämtlicher
Begräbnisstätten nebst einer Geschichte des Wiener Bestattungswesens. Mit
Fotos von Katharina Gossow. 5., ergänzte und vollständig überarbeitete
Neuauflage. Falter Verlag, Wien 2004, S. 214.
3 Tina Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien: Historische Ent¬
wicklung, Zerstörungen der NS-Zeit, Status quo. Wien 2011, S. 9.
4 Stefan Pollatschek geht auf diesen Aufstand in seinem historischen Roman
„Dr. Ascher und seine Väter“ (Wien 2004) ausführlich ein in Kapitel 9,
„Vinzenz Fettmilch und Dr. Chemnitz“, S. 183-207.
5 Vgl. Elisabeth Freundlich: Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau.
NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939-1945. Hg. v. Paul Rosdy. Theodor
Kramer Gesellschaft, Wien 2016, S. 7 sowie 133-169. Anhand von Zeugen¬
berichten sowohl von Tätern als auch von Opfern dokumentiert Freundlichs
Studie detailliert das Vernichtungsgeschehen auf dem jüdischen Friedhof
von Stanislau. In einem Roman der Exil-Autorin wird mit dem Motiv des
Seelenvogels die Bindung der Seelen ans Familiengrab literarisch gestaltet.
Vgl. Elisabeth Freundlich: Der Seelenvogel. Wien 1986.
6 Ebenda, S. 26.
7 Konstantin Kaiser: Vorwort. In: Leo Katz: Totenjager. Roman. Mit einem
Vorwort von Konstantin Kaiser und einem Nachwort von Friedrich Katz.
Aachen: Rimbaud, 2005. S. 5-10, hier S. 6.
8 Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind. Göttingen 2018, S. 110.
9 Ebenda, S. 110f.
10 Vgl. Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014, S. 135.
11 Ebenda, S. 135.
12 Ebenda, S. 136.
13 Vgl. auch Sanna Schulte: Das Lesen des Verschwundenen. Leseszenen in
Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. In: Leseszenen. Poetologie — Geschichte
— Medialität. Hg. v. Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte,
Heidelberg 2010, S. 343-363.
14 Petrowskaja: Vielleicht Esther, S. 12.
15 Ebenda, S. 132.
16 Ebenda.
17 Bauer: Wiener Friedhofsführer, S. 214.
18 Bernd Thier, Michael Brocke, Nathanja Hiittenmeister: Die Spuren der
Steine — Neufund eines mittelalterlichen jüdischen Grabsteins in Münster,
in: Archäologie in Westfalen-Lippe 2016, S. 134-138, hier S. 137.
19 Vgl. Bauer: Wiener Friedhofsführer, S. 216.
20 Vgl. ebenda, S. 220 und 222.