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Im Jahr 2019 feierte SOS-Kinderdorfein gleich mehrfaches Jubiläum. Es wurden nicht nur der 100-jahrige Geburtstag des Griinders Hermann Gmeiner (geb. 1919 in Alberschwende — gest. 1986 in Innsbruck) gefeiert, sondern auch 70 Jahre SOS-Kinderdorf. SOS steht dabei nicht fiir den Seenotruf, sondern fiir den Verein „Societas Socialis“. Diese Organisation, an der sich viele tatkräftige Frauen beteiligten, die das Projekt auch finanziell mittrugen, wurde 1949 in Innsbruck gegründet. Gmeiners Prinzip „MutterGeschwister-Haus-Dorf“ war zwar nicht neu, ebensowenig die Praxis der Sammlung kleiner Summen in der Bevölkerung — im Fall des Kinderdorfs waren es ursprünglich ein Schilling pro Monat', — doch die Initiative kam zum richtigen Zeitpunkt. Die urspriingliche Idee Gemeiners in der Nachkriegszeit war es, einen Ort für Kriegswaisen zu schaffen. Später waren es vor allem sog. Sozialwaisen, die in den bald schon zahlreichen Kinderdörfern eine sichere Bleibe fanden. Das erste Haus im Kinderdorf in Imst wurde 1951 eingeweiht und hieß „Frieden“. Heute gibt es weltweit an die 135 Kinderdörfer in vielen Ländern.? Aufviele Frauen übte die Idee, als „Kinderdorfmutter“ zu arbeiten, eine große Anziehungskraft aus. Trotz der geringen Bezahlung fanden sich viele Bewerberinnen. Auch Evamarie Kallir (geb. 1925 in Wien) war begeistert, als sie von ihrer Firmpatin erstmals vom SOS-Kinderdorfhörte. Sie war die Einzige ihrer Familie, die nach der Flucht vor den Nazis nach Europa zurückgekehrt war. Sie hatte mit 14 Österreich verlassen müssen, weil ihre Familie als jüdisch galt. In den USA arbeitete sie nach dem Collegeabschluss mit Schwerpunkt Kunstgeschichte und Kunsterziehung einige Zeit mit Kindern in Harlem und später als Lehrerin. Als sie in den 1950er Jahren nach Wien zurückkehrte, sollte sie die Kunstgalerie ihres Vaters Otto Kallir in Wien übernehmen, aber es zog sie nach Imst. Es bedurfte einiger Hartnäckigkeit, denn Gmeiner lehnte anfangs mehrfach ab. Schließlich gelang es ihr, ihren Traum zu lebenn. EIf Jahre lang arbeitete sie in Imst als handwerkliche Leiterin und „Mädchen für Alles“, wie sie erzählt. Gmeiner ließ ihr viel Gestaltungsspielraum; so richtete sie mit Spenden aus den USA eine kleine Werkstatt ein, wo sie mit den Kindern zeichnete, malte, töpferte, bastelte, schnitzte, batikte, Kerzen goss, mit Keramik und Stoffdruck arbeitete und anderes mehr.? Sie lud auch die außerhalb des Kinderdorfes lebenden Kinder der „Karner“, des wandernden Volkes in die Werkstatt ein, was im Kinderdorf Kritik hervorrief. Sie ließ diese Kinder schließlich an ihrem freien Tag zu sich kommen, es waren ihre „Sonntagskinder“. Zugleich mobilisierte Evamarie Kallir in den USA auch ihre Eltern und warb um Spenden und Patenschaften. Ihre Mutter (Franziska Lowenstein, verh. Kallir, 1899 — 1992) betreute das New Yorker Büro von SOS-Kinderdorfund baute ein ganzes Netz von KinderdorffreundInnen auf. Die Leitung des Büros übernahm später ein ehemaliges Kinderdorfkind aus Imst. Eva hatte dem Mädchen im Kinderdorf in Imst Englischunterricht gegeben. Über viele Jahre war das Büro der einzige Stützpunkt von SOSKinderdorfin den USA. Eva Kallir begleitete Hermann Gmeiner auch als Übersetzerin auf seine erste Amerikareise, bei der er auch ihren Vater Otto Kallir kennenlernte. Schließlich wurden von den Kallirs die „American Friends ofSOS children villages“ gegründet. Das erste US-amerikanische Kinderdorf entstand allerdings erst 1993 in Florida. In Österreich wurde das SOS-Kinderdorf in der Hinterbrühl bei Wien auf einem Grundstück von Verwandten der Familie Kallir errichtet, es wurde 1957 eröffnet. Der frühere Eigentümer, Karl Motesiczky (1904 — 1943), Bruder der Malerin Marie-Louise Oktober 2020 15