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Elnara Zülfügarova Asylleben Nach langem Hin- und Herziehen sind wir im Ländle gelandet. Wir leben in einer schönen kleinen Ortschaft Namens Schruns. In der Schule werde ich vorerst in Ruhe gelassen. Einige interessiert es, woher ich komme und warum ich hier bin. Nach ein paar Tagen hat das Interesse aber nachgelassen. Was ich mir selbst versprochen habe, vergesse ich natürlich nicht: Ich lerne Nleißig. Ich will in der Schule gute Leistungen erbringen. Da ich schon genügend Deutsch kann, komme ich in den Fächern gut mit. Vorerst darfich aber an Werkerziehung nicht teilnehmen, denn in dieser Zeit habe ich Deutschunterricht bei meiner Direktorin. Sie bringt mir vieles bei. Mein Wortschatz verbessert sich. Was ich auch von ihr erfahre, sind die österreichischen Festtage und manche Traditionen. Das ist ebenfalls interessant für mich, denn so lerne ich meine neue Heimat etwas näher kennen. Was mir Schwierigkeiten bereitet, ist, dass alle in der Klasse Dialekt reden und ich deshalb überhaupt nicht mitkomme. Dann habe ich den Eindruck, ich sei irgendwo in einem anderen Land, in dem Deutsch als lebende Fremdsprache gelehrt wird. Im Asylantenheim geht es uns gut. Ich habe mich verändert, das merke ich auch selbst, denn ich fange an zu kommunizieren und schäme mich nicht mehr, beim Reden Fehler zu machen. Vor allem rede ich immer wieder mit den Türstehern, die am Abend kommen und die ganze Nacht das Heim bewachen. Ich lerne immer etwas Neues von ihnen und erfahre viel über diese Region. Wir haben eine Gemeinschaftsküche, wo die Mutter kocht und ich ihr hin und wieder zuschaue und ein wenig aushelfe. Dann wird gemeinsam gegessen. Es gibt auch einen Deutschkurs im Heim. Ich nehme eine Zeit lang mit den anderen Frauen aus dem Heim daran teil. Da ich aber die Sachen, die sie gerade lernen, schon kann, möchte ich mein Wissen gerne erweitern. Wir haben zwei Lehrerinnen. Ich frage sie nach dem Deutschkurs, ob sie mir am Nachmittag Nachhilfe geben könnten. „Nur wenn du wirklich dein Bestes gibst“, heißt es. Ich erkläre ihnen, dass ich die Chance nutzen werde. Von daan kommen sie mehrmals unter der Woche zu mir, wir gehen hinauf in mein Zimmer und lernen und lesen gemeinsam. So schließe ich langsam meine Lücken. Insgesamt habe ich dreizehn Stunden Deutschkurs pro Woche. In der Freizeit lese ich schr viel und schaue mir viele Fernsehsendungen an. Meine schulischen Leistungen verbessern sich von Tag zu Tag. Ich werde in den Hauptgegenständen hinaufgestuft, und das motiviert mich sehr. Es ist zwar schön in dieser Schule, aber Freunde habe ich trotzdem keine. Ich bin Asylantin, vielleicht liegt es daran. Wahrscheinlich möchte sich deshalb keiner mit mir anfreunden. Egal, wie viel Mühe ich mir gebe, werde ich immer wieder gemobbt. Ich bin doch auch nur ein Mensch, denke ich. Ich weiß nicht, was ich nicht richtig mache, aber immer stehe ich als die Schlechte da. Die paar Stunden, die wir mit der ganzen Klasse haben, sind immer die schlimmsten. Am meisten in Zeichnen — da werde ich ständig gemobbt, weil ich nach Meinung der anderen nichts richtig mache. Die Jungs, seien es Philipp oder Matthias, gehen immer wieder an meinem Sitzplatz vorbei und verarschen mich. Was ich denen wohl getan habe? Nach der Schule muss ich jeden Tag circa zwanzig Minuten zu Fuß nach Hause gehen. Ich schaue mich immer um und genieße die Natur. Ich bin frei. Ein freier Mensch. Keiner kann mir hier etwas antun. Die Ereignisse in der Schule sind nur Kleinigkeiten. Keiner würde mir richtig wehtun. Weil wir in einem demokratischen Land sind. Ich sehe die Unterschiede zwischen den beiden Ländern - zwischen meiner alten Heimat und Österreich. Hier grüßen alle einander. Sogar die Polizisten grüßen. Dort, wo ich herkomme, ist alles ganz anders. In meiner alten Heimat bezeichnet man die Polizisten als „Hunde des Präsidenten“, denn sie würden den Leuten alles antun, wenn sie den Auftrag bekämen, den Diktator zu schützen. Langsam gewöhne ich mich daran, dass in diesem Land die Polizisten für die Sicherheit der Bevölkerung da sind. Zwar gibt es hier auch ab und zu aggressive und unhöfliche Polizisten, aber so schlimm wie dort ist es Gott sei Dank nicht, denn dort ist alles, was schlimm ist, längst zu einem Teil des Alltags geworden. Eines Tages wird uns von unseren Betreuern mitgeteilt, dass wir in eine Wohnung umziehen können. Wir alle freuen uns natürlich sehr. Wir bekommen eine Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, WC und Bad. Die Wohnung befindet sich in Bludenz, etwa zwanzig Kilometer von Schruns entfernt. Am meisten freuen sich meine Eltern, denn wir haben seit fast zwei Jahren keine eigene Wohnung mehr gehabt. Wir dürfen gleich einziehen, heißt es. Ich mache mir Sorgen, dass ich die Schule wahrscheinlich wieder wechseln muss. In der dritten Klasse ist das nicht günstig. Außerdem habe ich schon zu oft die Schule gewechselt. Auch wenn ich hier gemobbt werde, habe ich mich inzwischen an diese Schule gewöhnt. Meine Eltern fragen bei der Gemeinde Bludenz nach, ob ich weiterhin in Schruns in die Schule gehen darf. Es sei kein Problem, wenn ich dieses Schuljahr in meiner Schule beende, heißt es. Wir packen zusammen. Wir sind wieder auf Reisen. Inzwischen glaube ich, dass wir ein Umzugsunternehmen gründen könnten, denn das Ein- und Auspacken ist für meine Mama schon Routine. Nach fünf Monaten und 28 Tagen in Schruns beginnt unser neues Leben in Bludenz. An Mamas Geburtstag ziehen wir um. Das sei ein Geschenk für sie, meint sie, denn jetzt habe sie eine eigene Küche. Unsere Wohnung befindet sich in einer guten Gegend und ist nicht weit vom Zentrum entfernt. Die Lage ist schön. Wir machen die Tür auf und gehen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Gleich gegenüber befindet sich die Küche. Rechts sind ein Zimmer und das Badezimmer, links ein Wohnzimmer und noch ein weiteres, kleines Zimmer. Ein Zimmer bekommt meine Oma für sich allein. Ich und mein Bruder Raul ziehen in das andere Zimmer. Im Wohnzimmer schlafen meine Eltern auf einem ausziehbaren Sofa. Seit langem ist es uns nicht mehr so gut gegangen. Wir haben das Gefühl, zu Hause zu sein. Das einzige, was uns fehlt, ist das Bleiberecht. Ich fahre jeden Tag mit der „Montafoner Bahn“ in die Schule. Mein Bruder Raul hat nach Bludenz gewechselt, da er noch in die Volksschule geht. Ich brauche zwar länger, es ist jedoch nur eine halbe Stunde nach Schruns, wenn ich den Fußweg dazurechne. Papa begleitet mich jeden Morgen zum Bahnhof. Ich finde es toll, vor allem, weil er mir unterwegs Witze erzählt, um mich aufzumuntern. Er weiß, dass es mir in der Schule nicht gut geht, nachdem ich ständig gemobbt werde. Ich bin noch nie so oft mit der Bahn gefahren. Vor allem war ich noch nie alleine unterwegs. Es gibt ein Mädchen aus der vierten Klasse, neben dem ich manchmal im Zug sitze. Meist sitze ich aber alleine, doch Oktober 2020 17