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das stört mich nicht, denn ich schaue aus dem Fenster, und die Aussicht ist wunderbar. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich nicht akzeptiert werde, weil ich ein Flüchtling bin. Nur Lilli, meine Mitschülerin, stellt sich in den Pausen neben mich. Sie ist ebenfalls eine Außenseiterin, wird gemobbt und hat niemanden hier außer mir. Ab und zu jedoch rufen sie die Jungs aus der Klasse zu sich und erzählen ihr etwas Widerwärtiges über mich. Daraufhin wird sie stets kalt und abweisend mir gegenüber und behandelt mich genauso schlecht wie alle anderen. Das nehme ich in Kauf und warte geduldig, weiß ich doch, dass es nicht lange dauern wird, bis die Jungs sie wieder zu quälen beginnen, mit der Konsequenz, dass sie mir gegenüber wieder freundlicher sein wird. Wenn die anderen mies zu ihr sind, ist sie nett zu mir. Und umgekehrt... Eine Zeitlang schließe ich mich in den Pausen vier eng miteinander befreundeten Mädchen an. Bald merke ich, dass die Jungs aus der Klasse große Achtung vor mir bekommen, denn diese vier sind die Besten der Klasse. Zu ihnen zu gehören, würde meinen Status entscheidend verbessern, nehme ich an. Man würde aufhören, mich zu quälen und zu mobben. So suche ich immer wieder die Nähe und den Schutz dieser Mädchen. Sie heißen Lena, Jennifer, Miriam und Anja. Anja und Lena finde ich besonders nett. Vor allem Anja, denn sie ist mir gegenüber nicht so kalt wie die anderen. Die anderen schließen mich aus, besonders Miriam. Anja und Lena fangen immer wieder ein Gespräch mit mir an, doch Miriam möchte das nicht. Sie wirft mir böse Blicke zu und lästert über mich. Ich sche, dass sie es nicht mag, wenn Anja mit mir redet. Sie ist eifersüchtig. Eines Tages frage ich Anja: „Die Miriam möchte nicht, dass ich zu euch gehöre, nicht wahr?“ Anja zögert und sagt: „Ja, das stimmt.“ Ich wechsle schnell das Thema, denn ich merke, dass ihr das Gespräch unangenehm ist. Ich möchte niemanden mit meinen Problemen belästigen. Das Wohlergehen der anderen ist mir wichtiger als mein eigenes. Einige Tage später spricht mich Miriam in einer der Pausen an und sagt: „Elnara, wir möchten etwas miteinander besprechen. Das ist etwas unter uns vier Freundinnen. Kannst du bitte weggehen!“ Erst verstehe ich sie nicht, als sie aber ins Hochdeutsche wechselt, wird mir klar, was sie meint. „Okay“, sage ich und gehe. Ab diesem Zeitpunkt stehe ich in den Pausen alleine herum und schaue mir die anderen aus der Ferne an. Manchmal, wenn die Jungs mich ärgern und verhöhnen, gehe ich in mich und starre nur auf meine Jausenbox. Irgendwann verschlechtert sich wieder einmal Lillis Position in der Klasse, und sie beginnt, die Pausen wieder mit mir zu Verstreutes Die Not ist ein Stachel der Absicht im Leib des Flüchtlings. Er lauert auf die Chance, eine Verbindung zu knüpfen, ein Hilfeersuchen stellen zu können, vielleicht nur ein warmes Essen zu erhalten. Nicht so der Ansässige, der sich Zonen der Interesselosigkeit (ohne Wohlgefallen) leisten kann. Er spürt den Stachel in dem anderen und wird auf unklare Weise mißtrauisch, wie gegenüber einem Drogensüchtigen. 18 _ ZWISCHENWELT verbringen. Diesmal jedoch bin ich es, die abweisend ist. Lilli muss endlich einmal entscheiden, was sie will, denke ich. Sie kann sich nicht ihr Leben lang von irgendwem ausnutzen oder beeinflussen lassen. Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu. An dem Tag, an dem wir das Zeugnis bekommen, sche ich, dass meine Englisch-Note nicht stimmt. Der Lehrer hatte mir versprochen, ich werde hinaufgestuft, doch hier steht nichts davon. Ich beschließe, vor der Direktion auf den Lehrer zu warten. Dort ist aber niemand. Verzweifelt laufe ich auf dem Gang auf und ab. Auf einmal sche ich die vier Freundinnen, Anjas Mutter, die ebenfalls bei uns in der Schule arbeitet, meinen Klassenvorstand und die Direktorin in der Bibliothek miteinander reden. Was sie dort wohl machen? Gott, was geht das mich an! Es wäre aber toll, wenn die Direktorin hinauskäme, dann könnte ich ihr sagen, dass meine Englisch-Note nicht stimmt. Sonst verpasse ich den Zug. Mein Klassenvorstand schaut mich an. Ich schaue sie ebenfalls an, schaue ihr in die Augen in der Hoffnung, dass sie aus der Bibliothek herauskommt. Auf einmal sehe ich Miriam weinen. Die anderen trösten sie. Oh Gott. Was ist mit ihr los? Da eilt der Klassenvorstand auf mich zu. Super! Sie fragt mich, was ich brauche. Nachdem ich ihr erklärt habe, dass meine Englisch-Note nicht stimmt, meint sie, ich solle vor dem Lehrerzimmer warten, bis der Lehrer kommt. Ich gehe zurück zum Lehrerzimmer und warte. Warte auf den Lehrer. Er kommt und verbessert tatsächlich meine Note! Dann laufe ich, so schnell ich kann, zum Bahnhof und erreiche noch rechtzeitig den Zug. Fortsetzung folgt... Elnara Zülfügarova, geb. 1995 in Baku, flüchtete mit ihrer Familie im Jahre 2008 nach Österreich. Sie hat die Hauptschule, die Handelsakademie und das Bachelorstudium an der Wirtschafisuniversität Wien absolviert. Momentan arbeitet sie als Commercial Manager und macht das berufsbegleitende Studium Executive Management an der FH Wien der WKW. Als sie nach Österreich kam, sprach sie kein Wort Deutsch. Hinzu kam, dass sie oft umziehen musste — sie wohnte in Niederösterreich, Oberösterreich, Vorarlberg, Kärnten und Wien. Aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse wurde sie während der Schulzeit zum Mobbingopfer. Heute erinnert sie sich zurück an diese Zeit und ist dankbar, denn, was sie erlebte, gab ihr die Motivation weiterzukämpfen, sich zu bilden und für ihre Rechte einzustehen. Kleine Ergänzung: Was hier über Flüchtlinge gesagt ist, lässt sich auch über die im „Klassenkampf“ Verfolgten und Unterdrückten sagen, so Klara Blum in ihrem Gedicht „Klassenkampf“, erschienen in der Zeitschrift „Sozialdemokrat“ (Prag, Nr. 101, 29.4.1933). Da heißt es: „Sie haben je nach Bedarf/ gegen uns das herrisch-laute Kommando/ und das lautlos-verächtliche Zucken des Mundes./ ... Und uns zu verachten,/ weil wir überallhin das erlittene Unrecht mitschleppen.“