OCR
Sonja PleBl 1 Million Meals Indien und das unsichtbare Kind Am 14. Mai 2020 erreichte Konstantin Kaiser und mich dieses Mail von Ruchira Gupta aus Indien. Sie bittet, die Hilfskampagne 1 Million Meals bekanntzumachen und zu unterstiitzen. Dear Sonja and Konstantin, How are you? I think of you often and our conversation on fascism. Lam sure you have followed what is happening in India. Corona in the middle of fascism. Our government has used the opportunity of covid to initiate some very dark measures. They have arrested students and intellectuals who were protesting a citizenship act seeking to exclude Muslims, they have cancelled labor protection (a 12 hour work day is legal now) and they have cut off access to food for millions of migrant workers-shutting down our public distribution system. People are marching thousands of kms to get back to their villages, some dying on the way, some are also being locked up by the police for violating the lockdown. In the meantime, I have initiated a I Million Meals campaign jor victims of sex-trafficking, who are trapped in tiny rooms with no food, no fresh air and few hygiene products. Please do donate and spread the word on the campaign. Hope we can meet in person one day soon. With hope and gratitude, Ruchira Gupta Ich hatte Ruchira Gupta, eine lebhafte, lebenslustige, humorvolle, unerschiitterlich optimistische Frau, 2010 in Island bei der Nordischen und Internationalen Konferenz gegen Gewalt an Frauen kennengelernt und sie sieben Jahre später am Last Girl First Kongress in New Delhi in Indien wiedergetroffen. Im Mai 2019, nur wenige Tage nach der Wiederwahl von Narenda Modi zum Premierminister, hielt sich Ruchira Gupta beruflich in Wien auf. Bei einem gemeinsamen Essen unterhielten wir uns über die politische Lage und sie bat Konstantin, ihr ein Stück Wien abseits der Touristenrouten zu zeigen. Tags darauf spazierte Konstantin mit ihr durch den Karl-Marx-Hof. Gupta strebt ein internationales Bündnis gegen faschistische Strömungen an. Sie schrieb, die von den Faschisten nach dem Zweiten Weltkrieg gestreuten Samen gingen jetzt überall auf der Welt auf, sowohl in Indien als auch in den USA seien Faschisten nicht zu überhören. Ihre Frage lautet: Wie können wir denazifieren? Gupta plant Podcasts, Pamphlete, sucht Ideen und Verbündete. Wie überleben? 1 Million Meals rief Ruchira Gupta ins Leben, als sie nur zwei Tage nach dem Lockdown der Hilferuf eines zwölfjährigen Mädchens erreichte: Sie bitte um Nahrung für sich und ihre Mutter. Das Mädchen, das vor Corona dank Apne Aap ein Internat besuchen konnte, hatte der Whatsapp Nachricht eine Liste mit den Namen weiterer Familien beigefügt, die wie sie nichts mehr zu essen hatten. Ruchira gelang es, 500 Mahlzeiten zu organisieren. Hilferufe aus anderen Städten, in denen Apne Aap aktiv ist, folgten. Gemeinsam mit UnterstiitzerInnen rief Gupta 1 Million Meals ins Leben, das sich inzwischen auf fünf und dann acht Millionen Mahlzeiten ausgeweitet hat. Internationale Zeitungen berichteten dank Guptas großem Netzwerk. Gupta hatte vor der Gründung von Apne Aap in Indien für USAID Pläne gegen Menschenhandel ausgearbeitet, für zahlreiche asiatische Länder, für den Kosovo. 2002 war sie nach Indien zurückgekehrt und schloss an dem an, was sie nie losgelassen hatte: Die Gespräche mit prostituierten Frauen, die sie in den 1990er Jahren für ihren Dokumentarfilm über aus Nepal in die indische Prostitution gehandelte Mädchen geführt hatte. Mit 22 Frauen aus der Prostitution gründete sie eine Selbsthilfeorganisation, die heute die weltweit größte ihrer Art ist. Der Fokus von Apne Aap Women Worldwide liegt auf der Hilfe zur Selbstermächtigung der „Last Girls“. — Eigentlich. Denn nun geht es ums nackte Überleben von 10.000 Opfern von Sexhandel, die Apne Aap betreut: 2.500 Frauen, 7.500 Kinder. Jetzt, während der Corona-Pandemie, ist das Credo von Apne Aap Women Worldwide: What we try is to give them the hope to continue. For survival. Die erste Covid-19 Erkrankung in Indien wurde am 30. Janner 2020 registriert, unmittelbar nach dem Staatsbesuch von Brasiliens Prasidenten Jair Bolsonaro, dem ,,Covid-Leugner und Wald-Fresser“, wie ihn die indische Schriftstellerin Arundhati Roy nennt. Roy in ihrem Artikel in der Financial Times vom 30. April 2020: „Es gab zu viel zu tun, um sich um Corona zu kümmern.“ — Denn es folgte der Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Donald Trump vor einer Million Menschen in einem Stadion in Gujarat, aufSerdem fanden die Wahlen zum Regionalparlament in Delhi statt, bei denen Modis ultrareligiöse nationalistische Partei BJP eine herbe Niederlage einstecken musste, was aufgebrachte extremistische Hindus dazu veranlasste, Moslems anzugreifen, Häuser, Geschäfte, Schulen zu zerstören, gedeckt von der Polizei. Flüchtlinge suchten auf Friedhöfen Unterschlupf. Am 11. März erklärte die WHO Corona zur Pandemie, zwei Tage später erklärte das indische Gesundheitsministerium, Corona sei kein Gesundheitsnotfall. Am 19. März wandte sich erstmals der Premierminister an die Nation und mahnte zur sozialen Distanz. Bis dahin exportierte Indien Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte, statt sie für das Gesundheitspersonal und die Krankenhäuser im eigenen Land bereitzustellen. Indiens Krankenhäuser verfügen über nur 70.000 Intensivbetten, das ist doppelt so viel wie in Deutschland bei einer 15 mal größeren Bevölkerung. Indiens Gesundheitssystem zählt zu den am meisten privatisierten der Welt, während sich die Habenichtse keine wie auch immer geartete medizinische Versorgung leisten können und Menschen aus der Mittelschicht aufgrund von Krankheiten in die Armut stürzen, lockt der Medizinsektor in Kooperation mit dem Tourismussektor PatientInnen aus den USA und Europa für Operationen oder reproduktive Behandlungen in Kliniken, die gleichzeitig FünfSterne-Hotels sind. (Dinesh C. Sharma: 2014). Erzählungen, dass verwilderte Hunde in Krankenhäuser eindringen und sich Babys schnappen oder Ratten Neugeborene verstümmeln oder töten, Oktober 2020 19