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Inzwischen wurde er positiv getestet. Indien wird mittlerweile als „Sonderfall in Asien“ bezeichnet, bezogen auf die Infektionen pro eine Million Einwohner hat Indien 2,3 Mal mehr Fälle als Pakistan und 21,5 Mal mehr als Sri Lanka. Modi verweist auf die geringen Sterbefälle. Doch in Indien werden nur 85 Prozent aller Todesfälle überhaupt registriert, nur bei einem Fünftel wird auch eine Todesursache bescheinigt. Selbst in der Hauptstadt wird bei einem Drittel der Toten kein Totenschein ausgestellt. Experten machen den brutalen Lockdown für die hohen Zahlen verantwortlich.(Frankfurter Rundschau, 12.9.2020). Das Wohl der Nation Nur eine Woche nach dem Lockdown ließ Modi die Presse knebeln. Seit März wurden mindestens 55 JournalistInnen angeklagt, das ist die höchste Zahl in allen Demokratien für diesen Zeitabschnitt. (Komireddi 2020). Zu den Eingesperrten gehören der 70jährige Autor Anand Teltumbde, der sich für die Rechte der „Unberührbaren“ einsetzt, die sich selbst Dalit, „Geknechtete“, „Unterdrückte“, „Geschundene“ nennen. Ihm wird mit zehn anderen die Planung eines Mordkomplotts gegen Modi vorgeworfen. Ein weiterer der angeklagten „Verschwörer“ ist der 81jährige Dichter Varavara Rao, der deswegen bereits zwei Jahre im Gefängnis sitzt. Fake-Anklagen sind in Indien gängige Praxis. Die Anschuldigungen sind oft derart an den Haaren herbeigezogen, dass in Folge sämtliche fallengelassen werden - allerdings kann das Jahre dauern. Weitere Repression seit dem Wirken von Narenda Modi: Der 12-Stunden-Tag ist nun legal. Und dies vor dem Hintergrund, dass 36 Prozent der Frauen und 43 Prozent der Kinder unterernährt sind, das ist der höchste Wert weltweit und damit höher als im Afrika südlich der Sahara. Die Hälfte der Bevölkerung verfügt über keine Toiletten. Die dritthäufigste Todesursache bei Kindern sind Durchfallerkrankungen. Die Gegensätze sind extrem: Seit zwei Dekaden wächst das Bruttoinlandprodukt rasant — oder vielmehr rasend. Zwar kann Indien weniger Milliardäre als China aufbieten, dafür aber sind sie reicher, sie kontrollieren einen Besitz im Wert von mehr als einem Fünftel des BIP. Indien ist der weltweit größte Importeur von Gold, 2011/12 beliefen sich die Importe auf etwa drei Prozent des BIP Gold- und Edelsteinimporte sind zollfrei. Die Auspliinderung der Natur durch Großkonzerne verschlimmert die Versorgung mit Trinkwasser.(DW 2018). Indiens Militärausgaben entsprechen der Summe aller Programme gegen die Armut. (Anderson 2014:162). Das Nachbarland Bangladesch, das ehemalige Ostbengalen, liegt, bei einem nur halb so großen Pro-Kopf-Einkommen, in fast allen Sozialindikatoren voran: Die Kindersterblichkeit ist um ein Viertel niedriger, die Lebenserwartung mit 69 Jahren um vier Jahre höher, die Säuglingssterblichkeit niedriger, die Impfrate bei Kindern sowie die Erwerbstätigkeit und Alphabetisierungsrate von Frauen höher. Frauen ist im Parlament eine festgelegte Quote garantiert, im indischen Parlament hingegen konnte seit bald einem Jahrzehnt die Women's Reservation Bill nicht durchgebracht werden. (Dreze 2014, 62ff., Sen 2015) Dass es auch in Indien anders ginge, zeigen die Bundesstaaten Kerala, Himachal Pradesh und Tamil Nadu. Sie schlugen den Weg universalistischer Sozialsysteme ein, teils unter dem Druck sozialer Bewegungen, teils als elementaren Bestandteil linker Politik, dies schlägt sich in höherer Lebenserwartung, höherer Alphabetisierung, besserer Gesundheit nieder.(Dréze 2014:91ff). Kastenwesen und Verfassung Zahlreiche KritikerInnen sehen in Narenda Modi einen Faschisten, der sich mit seiner nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), „Indische Volkspartei“, daran macht, mit der Demokratie als Maske Indien in einen Hindu-Staat zu verwandeln. Die BJP gilt als der politische Arm der RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh), einer paramilitärischen Organisation, die sich am Nationalsozialismus orientierte, laut BBC „das größte Freiwilligenkorps der Welt“. So einfältig gefährlich Narenda Modis Kurs während der Corona-Pandemie wirken mag: Das geflissentliche Übersehen der untersten Kasten, dieses so tun, als gäbe es sie gar nicht, ist in der Tat nicht seine Erfindung. Sie gehört zu Indien wie Indien zu den Hippies. Im Gegensatz zu sich gegenseitig bestätigenden Angaben in Wikipedia, internationalen renommierten Zeitschriften, Internetauftritten von Tourismusbetrieben, ja sogar NGOs: Nein, das Kastenwesen wurde in Indien nie abgeschafft. Dass Gegenteiliges eine mediale Wahrheit geworden ist, würde Ambedkar ein bitteres Lachen entlocken: Es ist genau so gekommen, wie er es vorhergeschen hatte. Die indische Verfassung beinhaltet ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit, die Abschaffung der Unberührbarkeit sowie spezielle Fördermaßnahmen für „Scheduled Castes“, „Scheduled Tribes“ und „Other Backward Castes“, also alle „gelisteten“ Kasten und Stämme, die als „rückständig“ gelten. Ihnen kommt eine Quote in Bildungswesen, öffentlicher Verwaltung und politischen Vertretung zugute. Der muslimischen Bevölkerung des Landes — die weltweit drittgrößte — wurden eigene Quoten verwehrt. Bereits während der Unabhängigkeitsbewegung hatten Gandhi und Nehru säkulare Muslime, die Kompromisse für ein einiges Indien suchten, vor den Kopf gestoßen, zu ihnen gehörte der Präsident der Muslimliga, Muhammad Ali Jinnah, der spätere säkulare Staatspräsident Pakistans. Gandhi hatte gute Kontakte zur ultrareligiösen Hindu Mahasabha, aus der die BJP hervorgegangen ist. Als das „bis heute schlimmste Erbe der Kolonialherrschaft“ bezeichnet Anderson die Übernahme des First-past-the-post-Wahlsystems, wo die jeweils höchste Stimmenanzahl den Sieger direkt bestimmt und die Pluralität der Bevölkerung in einer monopolistischen Repräsentanz untergeht, eine Gemeinsamkeit mit den USA. Die prinzipielle Gleichheit vor dem Gesetz fand in der Verfassung als Kategorie keinen Eingang, es gab kein einheitliches bürgerliches Recht, im Familienleben waren Hindus und Moslems den Gebräuchen der Religion unterworfen, das betrifft vor allem die ihnen zugerechneten Frauen und Kinder und sie sind es teilweise noch immer, es gab keinen Eingriff in die religiösen Hierarchien des Alltags, der besondere Schutz der Kühe wurde in die Verfassung aufgenommen. Indien war eben gerade NICHT als säkularer Staat ausgerufen worden (Anderson 2014:137); erst Nehrus Tochter Indira Gandhi, die ihrem Vater in militärischer Aggression in nichts nachstand, ließ eine säkularistische Verpflichtung in die Verfassung aufnehmen. (Anderson 2014:147) Zwar gilt als „Schöpfer“ der Verfassung der große Kämpfer für die Rechte der Dalits, Bhimrao Ramji Ambedkar, selbst ein Dalit, der den Vorsitz im Verfassungskomitee innehatte und große Teile der Verfassung schrieb. Aber er war gezwungen worden, selbst die in den dreißiger Jahren durchgesetzten minimalen Sicherungen der politischen Autonomie der Unberührbaren zu streichen. 1951 versuchte er als Justizminister mit der Vorlage der Hindu Code Bill die krasseren Formen chelicher Ungleichheit zu streichen, doch auch in diesem Kampf wurde er von Nehru angesichts des Oktober 2020 21