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Aufruhrs auf den Parlamentsbänken der Kongresspartei (die sich als Hüterin von Toleranz und Säkularismus versteht) im Stich gelassen, nachdem er es gewagt hatte, die Legende von Krischna und Radha als Emblem der hinduistischen Degradierung der Frau zu bezeichnen. (Anderson 2014:138) Daraufhin trat Ambedkar von seinem Amt zurück. Dass es so und nicht besser kam, hat viel mit Gandhi zu tun: Ambedkar war von Gandhi 1932, als die Kolonialmacht London bereit war, den Unberührbaren eigene Wahllisten zuzugestehen, in die Knie gezwungen worden: Der Mahatma werde bis zum Tode fasten, wenn die Unberührbaren nicht erneut der Hindu-Wählerschaft zugeschlagen würden. Ambedkar gab nach — der Fastentod Gandhis hätte ein Massaker an den Dalits zur Folge gehabt — und bereute dies bis zu seinem Lebensende. Gandhi fiirchtete sowohl ein Biindnis zwischen Moslems und Dalits gegen die ,,Kastenhindus* als auch um den Hinduismus selbst, inklusive dessen Ruf. Alle drei Punkte waren heute mehr denn je eine Überlegung wert. Eigene Wahllisten für Dalits hätten bestätigt, „dass das Kastenwesen in der Tat — wie seine Kritiker stets behauptet hatten — ein verwerfliches System der Diskriminierung war, das die niedrigsten Schichten der Gesellschaft zu Untermenschen degradierte [...]“. (Anderson 2014: 44). Gandhi betrachtete die Unberührbarkeit als Auswuchs des Hinduismus, dagegen trat er auf, und er schenkte den Unberührbaren die Bezeichnung „Kinder Gottes“ — womit er sie gleichzeitig in den Hinduismus zwang — das Kastenwesen aber betrachtete er als „unabänderliches Naturgesetz“ (Anderson 2014:42), das den Hinduismus „vor seiner Auflösung bewahrt“ habe. Das Kastenwesen ist die Pflicht, den ererbten Beruf anzutreten und in diesem zu bleiben. Ambedkar schrieb 1936, das Kastenwesen sei nicht nur eine Arbeitsteilung, es sei auch eine „Teilung der Arbeitenden“ (Ambedkar 2019:23), eine Teilung, die durch religiöse Tabus, Phobien und Reinheitsgebote in Erz gegossen ist. „Die Literatur der Hindus ist voller Abstammungsgeschichten von Kasten, in denen versucht wird, einer Kaste einen edlen Ursprung und einer anderen Kaste einen unedlen Ursprung zuzuschreiben.“ (Ambedkar 2019:32) „Eine Kaste hat kein Empfinden dafür, dass sie mit anderen Kasten verbunden ist, außer wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslims kommt.“ (Ambedkar 2019:30). An dieser Stelle sei daran erinnert, was den Dalit alles nicht erlaubt war: Hemd tragen, Sandalen tragen, Schnurrbart tragen, Fahrrad fahren, mit Schuhen durch das Dorf gehen, sich in Anwesenheit eines Kastenhindus auf einen Sessel setzen, eine Frau aus einer höheren Kaste ansprechen, manche mussten einen Besen um die Hüfte tragen, um den durch ihre Füße verschmutzte Staub wegzukehren, und einen Spucknapf um den Hals, damit ihr Speichel nicht den Boden verunreinige. Verboten war ihnen auch, Lohn für Arbeit zu verlangen, sie mussten für sie hinterlegtes übrig gebliebenes Essen und abgetragene Kleidung als Bezahlung annehmen, sie erhielten mittels Bettelschalen das „Recht“ zu betteln. In manchen Gebieten wurde den Dalit-Frauen sogar eine Steuer für die Bedeckung der Brust abverlangt. Aktuelle Fälle, die der in Mumbai lebende Dokumentarfotograf Sudharak Olwe mit seiner Kamera „als Waffe“ erzählt, bestätigen die klarsichtige Analyse von Ambedkar: Das Kastenwesen werde intakt bleiben, wenn nicht der Hinduismus an sich zum Gegenstand der Debatte wird. Sagar Shejwal, ein siebzehnjähriger Jugendlicher, Dalit, wird von Männern einer höheren Kaste zu Tode geprügelt. Stein des Anstoßes: Auf seinem Handy läutete ein Klingelton zu Ehren von Ambedkar. Eine Frau, Dalit, erleidet das gleiche Schicksal: Sie hatte mehr Lohn für ihre Arbeit verlangt, der ihr rechtmäßig 22 _ ZWISCHENWELT zugestanden wäre. Ein Mädchen berichtet, wie ein Kind, Dalit, ins Wasser fiel und ertrank: Niemand wollte es berühren, um nicht unrein zu werden. (Konferenzreport, Den Haag, 2006). Im 21. Jahrhundert lehnen drei Viertel der Inder insgesamt und die Hälfte der höher Gebildeten kastenübergreifende Ehen ab. (Anderson 2014:155). Wenn zum Pflegenotstand in Indien berichtet wird, wie 2017 in der Deutschen Welle: „In Indien wolle niemand andere Menschen waschen oder gar pflegen. Das sei mit der Kultur des Landes schwer vereinbar“, dann verschleiert der im Westen nur zu gern gebrauchte Begriff „Kultur“, worum es wirklich geht. Nehru, Indiens erster Ministerpräsident, war zwar säkular, aber ein quasireligiöser Anhänger des während der Unabhängigkeitsbewegung verbreiteten Mythos, Indien habe bereits vor der Kolonialisierung als Einheit bestanden. Die traditionelle Geringschätzung der Geschichtsschreibung — die Lehre vom Karma lehnt Historiographie ab — war dafür nützlich und ist es noch. Diese „Einheit“ liefert die Basis für die unfassbarsten Gräueltaten gegen die indigene Bevölkerung, wobei private, aber auch staatliche Großkonzerne, Paramilitärs und Sicherheitskräfte Hand in Hand arbeiten. Sie ist eine Fortführung der kolonialen Unterwerfung, basierend auf zahlreichen von der Kolonialmacht übernommenen Befugnisse für Militär und Sicherheitskräfte, dazu zählt der 1958 wieder eingesetzte Armed Forces (Special Powers) Act (AFSPA), der die sofortige Tötung erlaubt, wenn jemand in einer Gruppe von fünf oder mehr Menschen angetroffen wird, falls solche Gruppenbildung verboten worden war, mit dem zusätzlichen Verbot aller rechtlichen Schritte gegen „irgendwelche Personen hinsichtlich irgendwelcher Handlungen oder angeblicher Handlungen bei der Ausübung der durch diese Anordnung übertragenen Macht“, falls die Zentralregierung diesen rechtlichen Schritten nicht zustimme. (Anderson: 124, 168) Von ihm wird überall dort Gebrauch gemacht, wo jemand im Weg steht, seien es nun Indigene oder moslemische Nomaden in Kaschmir. Bereits in den dreißiger Jahren hatten sich Indigene organisiert, sie nennen sich „Adivasi“, „erste Siedler“. Sie zählen rund 100 Millionen, knapp 700 Völker sind als „Scheduled Tribes“ anerkannt. In Indien lebt die weltweit größte indigene Bevölkerung. 1993 trafen sich zum ersten Mal Adivasi-Vertreter aus allen Regionen Indiens in New Delhi und gründeten den Indischen Adivasi-Rat, inzwischen ist die ICITP (Indian Confederation of Indigenous and Tribal Peoples) international als Dachorganisation der Adivasi anerkannt. Die Forderungen umfassen das Selbstbestimmungsrecht, Besitz- und Nutzungsrechte an Naturressourcen, eine den eigenen Bedürfnissen gemäße Entwicklung und die Anerkennung der scheduled tribes als indigene Völker im Sinne des Internationalen Rechts durch die Regierung. Die Regierung lehnt die Bezeichnung „Adivasi“ sowie internationale Definitionen von Indigenität ab, denn: „all Indians are Indigenous.“ (Cultural Survival 2016:1) Die als rückständige Wilde dargestellten Adivasi werden von ihrem Land vertrieben, wann immer es beliebt, neuerdings zum „Schutz der Natur“, auf ihrem Land werden „Naturschutzgebiete“ angelegt, darin sich Touristenattraktionen finden, Hotels, etc. Zwischen Adivasi und Dalits besteht in der Tat eine Verbindung: Die versklavten Adivasi, die dunkelhäutigen Waldbewohner, waren im Zuge der Eroberung durch hinduistische Stämme zu „Unberührbaren“ geworden, die Veden berichten davon. Adivasi und Dalit machen rund ein Viertel der indischen Bevölkerung aus.