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Als am Last Girl First Congress Soni Sori, eine Adivasi, ihre Stimme erhob und erzählte, was ihr widerfahren war, begannen die dunkelhäutigen indischen Frauen und Mädchen im Konferenzsaal zu weinen, während wir alle, die wir auf die englische Dolmetschung angewiesen waren, wie benommen verharrten. Sori war 2011 von Polizisten unter der (später fallen gelassenen) Anschuldigung, sie sei Maoistin, verhaftet und gefoltert worden: ihr wurden Steine in die Vagina und in den Anus getrieben. Sie überlebte, weil es ihr aus dem Gefängnis heraus gelungen war, eine Hilfsorganisation in Delhi zu verständigen, die eine Notoperation in die Wege leiten konnte. Später wurde sie mit ätzender Säure attackiert. Sie gilt als „Furchtlose“, die sich nicht einschüchtern lassen will: „If they are successful in silencing me, they would show me as an example to silence everyone else.“ (BBC Hindi, 22.3.2016) Es sind ausgerechnet Frauen, die oft an der Spitze der Bewegung um Landrechte stehen. Zu ihnen zählt die Journalistin Dayamani Barla aus Jharkand, eine Adivasi. Sie war ein Schulkind, als ihr Vater von seinem Land vertrieben wurde. Ihre Eltern fanden als Dienstboten Arbeit - in verschiedenen Städten. Barla schlief während ihres Journalistikstudiums teilweise in Bahnhöfen. Bekannt wurde sie als Aktivistin gegen das geplante Stahlwerk von Arcelor Mittal, das die Vertreibung von vierzig Dörfern bedeutet hätte. Trotz illegaler Landaneignung hatte die BJP-geführte Regierung von Jharkand das Bauprojekt bewilligt. 2017 aber entschied das Umweltministerium dagegen. Ein gewaltiger Sieg für die Adivasi, der die Hoffnung nährt, das Umweltministerium würde seine Praxis, dass die Antragsteller um Baugenehmigung ihre eigene Genehmigung schreiben, nachhaltig ändern. Asifa Im April 2018 ging ein Video auf Youtube online, das sich auf eine Meldung von Outlook India bezieht: Die indischen Pornoseiten sind mit Suchanfragen nach „Asifa“ überschwemmt worden. Das achtjährige Mädchen Asifa ist im Jänner 2017 von einem Hindupriester, einem ehemaligen Regierungsbeamten, Polizisten und weiteren Hindus entführt und über fünf Tage in einem Hindutempel vergewaltigt worden. Als die Leiche des Mädchens in einer Blutlache gefunden wurde, waren ihre Beine gebrochen und ihr Schädel mit einem Stein eingeschlagen. Die sieben Angeklagten waren allesamt höherkastige Hindus, das Opfer Angehörige moslemischer Nomaden, der Bakerwal, die das Pogrom von 1947 überlebt hatten, als 237.000 muslimische Frauen, Kinder und Männer von Hindus, angeführt von der faschistischen RSS, systematisch ermordet worden waren. Seit Jahrhunderten lassen die Bakerwal ihre Schafe und Pferde im Himalayagebiet in Kaschmir weiden. Seit 2015 sind sie wiederkehrenden Vertreibungsmanövern ausgesetzt. Talib Hussein, derjenige Bakerwal mit der höchsten Bildung und Landrechtsaktivist, schaltete die Medien ein. Sieben Hindus wurden festgenommen. Da organisierten Hindus Demos, an denen zwei BJP Minister teilnahmen. Sie forderten die Freilassung der Angeklagten und hetzten gegen die moslemischen Nomaden. Minister Choudhury Lal Singh von der BJP rief in seiner Rede auf der Demonstration: „So what if this girl has died? Many girls die very day.“ (Youtube 21.4.2018) Es war derselbe Minister, der 2016 den Bakerwal mit der Wiederholung des 1947-Massaker gedroht hatte. In jenem Distrikt, in dem Asifa von höherkastigen Hindus bestialisch ermordet worden war, soll ein Dorf mit 204 Gujjar Familien weichen. Der Standort ist für das neue All India Institute of Medical Sciences auserkoren worden. Das Gebiet ist nicht hochwassersicher. Und hast du kein Papier, so bist du nicht Modi hat viel vor. Er plant eine weitere Liberalisierung der Wirtschaft, zusätzlich zu den bereits 1991 bis 1993 auf Druck des IWF erfolgten „Strukturanpassungsprogrammen“. Ich frage mich: Hat der IWF je irgendwo auf der Welt die Reduktion von Militärausgaben zugunsten von Sozialprogrammen verlangt? Des Weiteren plant Modi ein neues Staatsbürgergesetz, das Moslems bei der Einbürgerung diskriminiert, und ein neues Bürgerverzeichnis: Alle Inder sollen im Zuge eines neuen Bürgerverzeichnisses beweisen, dass ihre Vorfahren tatsächlich aus Indien stammen und sie keine illegalen Einwanderer sind. Diese Kombination droht Millionen Moslems in die Illegalität zu drängen. In Delhi organisierten muslimische Frauen ab Dezember 2019 groß angelegte Sitzstreiks, ganze Straßenzüge legten sie lahm, Geschäfte mussten schließen. Der Oberste Gerichtshof (in Indien eine der standhafteren Säulen der Demokratie) untersagte der Polizei die Räumung. Dann wurde der Lockdown verhängt. Bereits jetzt sind die Ärmsten mit ihrer Nichtexistenz am Papier konfrontiert: Wollen sich Dalit oder Adivasi registrieren lassen, werden sie von den Behörden weggejagt. Damit werden ihnen auch Wahlkarten, Lebensmittelbezugskarten, Schuleinschreibungen verweigert. Angesichts dieser Behördenwillkür - in der Regel handelt es sich bei Beamten, wie auch bei Lehrern, um höherkastige Hindus — hat die 2002 gegründete Selbsthilfegruppe Apne Aap Women Worldwide das Erlangen von Dokumenten von Anfang an in ihre 10x 10 Ziele aufgenommen: 10 Mädchen helfen sich gegenseitig zehn Ziele zu erreichen, darunter: sicherer Ort, Bildung, Selbstvertrauen (vor einer Gruppe eine Rede halten, Artikel schreiben), politische Partizipation (Petitionen, Gespräche mit Regierungsvertretern), Dokumente erlangen, Bankkonto eröffnen, lernen, wie eine Anzeige bei der Polizei ausschen muss. Vorbild Indien? Wenn nun Indiens Verfassung als „eine der weltweit besten“ bezeichnet und nachgerade als multikulturelles Vorbild empfohlen wird, hat dies mehr mit dem Wesen multikultureller bzw. kulturrelativistischer Theorien zu tun als mit der indischen Verfassung. Das Prinzip der Quoten für „Scheduled Castes“ hat zwar einigen Kasten durchaus geholfen, aber die Kasten nicht aufgelöst, sondern sie verfestigt. In den letzten Jahren nahm ein Karussell der Identitätspolitik Fahrt auf, indem sich bessergestellte, aber im Zuge der Globalisierung ins Hintertreffen geratene Kasten wie etwa jene mit Landbesitz nicht scheuen, für die Anerkennung ihrer „Rückständigkeit“ unter großer medialer Aufmerksamkeit erfolgreich zu demonstrieren. Während es ihnen gelingt, in den Genuss von Quoten zu kommen, verhungern landlose Adivasi zu Dutzenden. Die breite Masse von Indiens Landlosen sind vertriebene Adivasi und verelendete Dalit. Wie kann es sein, dass Hippies gerade Indien als ihren spirituellen Sehnsuchtsort auserkoren hatten? An diesem Punkt sei angemerkt, dass Gandhis Glaube, wie Kathryn Tidricks in ihrem 2006 erschienenen Buch „Gandhi: A Political and Spiritual Life“ zeigt, auf einer Mischung Oktober 2020 23