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aus Hindu-Orthodoxie, spätviktorianischem Mystizismus der Protofaschistin und wüsten Antisemitin Madame Blavatsky, der Theosophie, spiritistischen Techniken, der Esoteric Christian Union und Ekel vor Sexualität gründete. Gandhi verabscheute den Sozialismus, das Eigentumsrecht war ihm heilig. Als während der Unabhängigkeitsbewegung Arbeiterunruhen aufllackerten, erstickte er sie, indem er die zuvor ausgerufene „Nichtkooperation“ mit den Briten abrupt für beendet erklärte: „In Indien wollen wir keine politischen Streiks.“ (Anderson 2014:38). Pächtern am Land riet er, lieber Ungerechtigkeiten zu erleiden, als Zwietracht zwischen Grundbesitzern und Pächtern zu säen. Sein Nachfolger Nehru ließ nach der Unabhängigkeit im ganzen Land kommunistische Führer ohne Verfahren ins Gefängnis werfen. In die Verfassung wurde ein Privileg der Kolonialmacht geschrieben, das nun als Artikel 356 erlaubt, in Bundesstaaten die Präsidialregierung zu verhängen. Alleine bis 1987 hatte so die Zentralregierung 75 mal die Macht an sich gerissen, in buchstäblich jedem indischen Staat, alleine in Kerala, wo immer wieder eine kommunistische Regierung gewählt wurde, fünfmal. (Anderson 2014:110). Konnte der „Exportartikel Gandhi“ derart erfolgreich werden, weil es ein bisschen um Frieden und Geduld, aber vor allem um das Zulassen immenser Ungerechtigkeit bei gleichzeitiger Negierung derselben ging? Liegt der Erfolg vielleicht auch darin, dass im Kalten Krieg die Verunméglichung einer geeinten ArbeiterInnenklasse durch vier Hauptkasten und weitere 4000 bis 7000 Unterkasten gelegen kam? Im zentralindischen Dschungel reicht ein Bubikopf, um von Sicherheitskräften oder Paramilitärs erschossen zu werden, da diese Frisur unter Maoistinnen bzw. Naxaliten auch vorkommt. Arundhati Roy jedenfalls sicht eine Mitverantwortung des Westens, sie verwehrt sich auch gegen die Bezeichnung „Aktivistin“: „Man scheint die Definition immer enger zu fassen, und so ist jemand, der politisch schreibt, plötzlich kein Schriftsteller mehr, sondern ein Aktivist. [...] Was geschicht hier, welcher Platz wird der Literatur hier zugewiesen?“, fragte Roy beim Literaturfestival in Berlin 2017, wo sie ihren neuen Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ vorstellte - ihren ersten Roman seit „Der Gott der kleinen Dinge“ vor zwanzig Jahren. Schreiben sei unweigerlich politisch, das könne man sich nicht aussuchen. „Die Politik tritt dir die Tür ein.“ Für kritische Intellektuelle sei es in Indien mittlerweile schr gefährlich. (Peschel 2017). Ihr neuer Roman wird manchmal als magischer Realismus gelesen — Roy antwortet darauf: „Nur weil es nicht deine Realität ist, ist sie noch lange nicht magisch.“ (Der Tagesspiegel, 11.9.2017). Seit 1947 habe es nicht einen einzigen Tag gegeben, an dem die indische Armee nicht im sogenannten eigenen Land aktiv gewesen wäre. Die territoriale Integrität Indiens in Frage zu stellen, ist eine strafbare Handlung — das war schon lange vor dem Aufstieg der BJP so. (Anderson 2014:175). Anderson zeichnet in „Die indische Ideologie“ akribisch die militärische Expansion Indiens nach. Der Kaschmir-“Konflikt“ basiert auf der Einverleibung des größten Fürstenstaates durch Betrug und Gewalt. Als Indien und Pakistan unabhängig wurden, hatten es die Briten den 560 Fürstenstaaten freigestellt, selbst über ihren Status zu entscheiden, das betraf eine Fläche von zwei Fünftel des Subkontinents. In Kaschmir hatte sich unter dem Lehrer Sheikh Abdullah die Muslim-Konferenz gebildet und 1944, bereits als Nationalkonferenz, ein soziales Programm verabschiedet, das von Kommunisten entworfen worden war und ein unabhängiges Kaschmir zum Ziel hatte. Die militärische Intervention Indiens folgte, untermauert von einem gefälschten Dokument, das Indien ein halbes Jahrhundert später vorlegte... 24 ZWISCHENWELT (Anderson 2014:82ff.). 2010 begab sich Roy, wie zuvor schon der schwedische Schriftsteller Jan Myrdal, in die verbotenen Bezirke der Dandakaranya-Wälder in Zentralindien und hörte sich an, was die GuerillakämpferInnen zu sagen haben. Im 2010 erschienenen „Walking with the Comrades“ schreibt sie darüber. Die meisten der dutzenden Millionen Binnenvertriebenen sind Indigene, alleine mehr als 30 Millionen aufgrund des Baus von Staudämmen. Roy kritisiert den „Gandhianischen frommen Humbug“ und seine Vorstellung von ‚ Ireuhänderschaft‘: ‚Der reiche Mann wird den Besitz seines Reichtums behalten, von dem er das verbrauchen wird, was er vernünftigerweise für seine persönlichen Bedürfnisse benötigt, und wird als Vormund für das Übrige fungieren, um es für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen.‘, (zitiert in Roy 2010). Roy formuliert Fragen, die sich mir nach meiner Ankunft am Flughafen in New Delhi zum Last Girl First Kongress als dunkles Gefühl aufdrängten. Auf dem Weg zum Konferenzzentrum musste der Iaxifahrer bei Rot halten. Am Straßenrand eine Frau, sie streckt eine Hand den Autos entgegen, in ihrem Arm ein Kind. Sie bettelte um Wasser für ihr Baby. Ich starrte und starrte, während meine kleine Tochter sicher bei ihrem Vater in Wien war, und manchmal denke ich, ich starre noch immer: Wie nur kann man in Indien nicht sehen, was nicht zu übersehen ist? Ich habe den Eindruck, dass seit zwei oder drei Jahrzehnten anstelle des Mutes — und der ihm vorausgehenden Gedankenarbeit — der Solidarisierung mit den Bedrangten eine akademisch verbramte diffuse Vorstellung von Toleranz getreten ist, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass man vorbeischaut statt hinschaut. Menschenrecht wird bei Bedarf durch religiöse WERTvorstellungen relativiert. Indien war das erste Land, dass die Satanischen Verse von Salman Rushdie verboten hat. Anderson nennt den Hauptzug der indischen Politik „rivalisierende Desäkularisierung“ (S. 151), wo der Vorteil nur bei der BJP liegen konnte. Seit Jahren werden Moslems gelyncht - für die Lynchmorde genügt der VERDACHT, eine Kuh getötet zu haben. Dies passierte bereits den meist in Armut lebenden moslemischen Bauern im Kaschmir der 1920er unter der obskurantistischen Tyrannei eines Hindu-Fürsten: Auf die Tötung einer Kuh stand die Todesstrafe. Die Beschwörung, dass dies alles gar nichts mit der Kongresspartei und den Galionsfiguren der Unabhängigkeitsbewegung zu tun habe, ist falsch. Wer Modis BJP entgegentreten will, müsste bereit sein, sakrosankte Mythen anzukratzen. In Indien selbst kann dies das Todesurteil bedeuten. Umso mehr würde es Intellektuellen im Westen anstehen, von ihren Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. Im Unterschied zu Roy - und anderen - sieht aber Anderson mangels „Revanchismus“ und „Arbeiterbewegung“ keine faschistische Gefahr. Faschismus war jedoch immer eng mit Obskurantismus (und technologischem Machbarkeitswahn!) verbunden, beides Grundlagen der Menschenverachtung und Zerstörung des Lebendigen, beides müsste in politische Analysen einfließen. Roy vergleicht die auf den Prinzipien des politischen Hinduismus basierenden RSS-Shakas und deren erzieherischen Arm, die Saraswati Shishu Mandir oder Vidya Bharati (Vidya Bharati Akhil Bharatiya Shiksha Sansthan), eines der größten indischen privaten Schulnetzwerke (!) mit den Rekrutierungsstätten für den Jihad. In Gujarat, wo ein organisierter Mob 2002 ein Pogrom gegen die moslemische Bevölkerung, allen voran an Frauen, verübte, waren „die Polizei, die Regierung und die politischen Kader auf jeder Ebene systematisch unterwandert [worden]“. (Roy 2002:318) Beide, der politische Hinduismus und der politische Islam, richten sich mit Leidenschaft gegen die