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Der Faschismus kann nicht tot sein, solange wir immer nur die einzelnen Pilze bekämpfen, die da und dort, groß oder klein, rot, blau, grün oder gar schwarz aus dem Boden schießen, angelehnt an ihre Lieblingsbäume, mit denen sie — und das ist bekannt — die eine oder andere fruchtbare Symbiose — für beide von Vorteil — eingehen. Die Übertragung von Naturphänomenen und -gesetzen in die politische Wissenschaft ist mehr als zweifelhaft, aber als Metapher meiner Meinung nach zulässig. Und bei allen Pilzen und Schwammerln möchte ich mich für diesen Vergleich aufrichtig entschuldigen. Waldheim hat es geschafft als großer — eine genauere Bezeichnung verkneife ich mir — Pilz aus diesem Myzel emporzuwachsen — im Schutz einer großen Eiche, will ich mal annehmen. Als dann der Waldheim nach erreichter Pilz-Größe wieder zu Waldboden wurde und damit auch sein Myzel wieder speiste, wurde dieses nicht schwächer oder starb ab, nein, es wurde stärker und produziert immer wieder neue Pilze. Und würden wir den Waldboden in abgegrenzte Flächen aufteilen wie unser Parlament in einzelne Sitzreihen, könnten wir genau beobachten, wie überall, an bestimmten Stellen mehrere und an anderen weniger Pilze, aus dem Boden schießen. Nicht alle Pilze wachsen nach dem Regen schneller und höher, manche bevorzugen auch trockene Tage. Nicht alle Faschisten werden in Krisenzeiten besonders aktiv, manche nützen auch Zeiten des Wohlstandes um zu wachsen und groß zu werden... Die für viele Bürgerinnen und Bürger gerne angenommene Unwahrheit, mit dem Waldheim wäre es dann gewesen, kann einfacher demaskiert werden, wenn wir den Faschismus in seine ureigensten Komponenten zerlegen. Die Überzeugung von der Ungleichwertigkeit der Menschen, ein wesentlicher Teil des faschistischen Fundaments, ist präsent wie nie zuvor. Fin Mensch ist mehr wert als ein anderer, und der physisch Stärkere ist dem Schwächeren vorzuziehen. Das Propagieren des Starken, vor allem des starken Mannes, inkludiert auch das Fehlen des Verständnisses für den Schwachen, das Mitgefühl geht damit verloren. Fast täglich dokumentiert durch die Toten im Mittelmeer. Eine weitere Komponente: Die Wahrheitssuche nicht mit Hilfe von Wissenschaft sondern unter Verwendung von Glauben. Traurige Aktualität erhält diese Komponente durch die Gegner der PandemieEinschränkungen. Aus der Ungleichwertigkeits-Überzeugung entsteht oft die Reduktion der Frau auf die Kinder-Küche-HerdRolle. Die faschistische Diskriminierung der Frau im sexuellen Bereich scheint überwunden, die Forderung, der Bauch gehört der Frau, wird allerdings wieder — wie in Polen - zurückgewiesen. Aus der nationalsozialistischen Propaganda, erstes Mittel um den Widerspruch zwischen theoretischem politischen Anspruch und gesellschaftlicher Praxis zu verschleiern, hat sich ein neuer Begriff herauskristallisiert: der Populismus. Diese Aufzählung von ideologischen Versatzstücken des Faschismus und Nationalsozialismus, die im Myzel des dunklen Waldes überlebt haben, ist erstens nicht vollständig, ist auch in dieser Abhandlung nicht möglich. Festgestellt werden muss aber zweitens, dass ein einziges Versatzstück oder zwei, vielleicht sogar drei noch keinen Faschisten aus einem Menschen machen, aber in ihrer Gesamtheit, in Verbindung mit speziellen ökonomischen Voraussetzungen kann es passieren, dass man vor lauter Pilzen den Waldboden nicht mehr sieht. Wie schnell ein Zusammenführen mehrerer faschistischer Elemente einen faschistischen Staat ergeben kann, zeigt die aktuelle Entwicklung in der Türkei — da kommt zusätzlich die Religion ins Spiel und gläubig aufihre spezielle Art waren große und kleine 8 _ ZWISCHENWELT Nazis. Wenn ich die Reaktion europäischer Politiker aufden Führer vom Bosporus und seiner Bewegung beobachte, stelle ich die Frage: Erkennen unsere Politiker die Gefahr nicht, oder wollen sie aus politischem Kalkül die Gefahr wieder einmal nicht erkennen. Dann sind wir in Europa dort angelangt, wo wir schon einmal waren. Da nützen keine Bekenntnisse von Kanzlern, Präsidenten, Staatsoberhäuptern, die in schönen Worten auch Neutralität bekunden — wie anno dazumal —, da wäre längst mehr Widerspruch angesagt und Unterstützung des nationalen Widerstandes im Land selbst. Ich bemerke von beidem nichts. Das Myzel der Pilze wird überleben. Schwammerlgulasch und Eierschwammerln mit Knédel wird es in der österreichischen Küche weiter geben. Wenn der Faschismus nicht ernsthaft bekämpft wird, wird auch er weiterwachsen. Ein strategischer Erfolg wird erst mit dem Übergang in ein menschlicheres, gerechteres Gesellschaftssystem möglich sein und auch dann erst nach einem langwierigen Prozess, denn eine Erziehung gegen den Faschismus bedeutet eine Erziehung zum Humanismus. Erziehung ist ein langwieriger Prozess. Um den zu lehrenden Humanismus steht es zur Zeit schlecht. Nicht einmal der Humanismus des traditionellen Bürgertums ist mehr in greifbarer Nähe. Noch nach 1945 wurde an österreichischen Mittelschulen fast Nächendeckend Latein und manchmal auch Griechisch unterrichtet. Als nicht mehr zeitgemäß verschwinden diese Fächer immer mehr. Mit den zwei Sprachen verschwindet auch die traditionelle Allgemeinbildung. Die Maturanten der 1960er Jahre kannten noch den Kategorischen Imperativ und wussten, dass er eine Richtung vorgibt, nach der man leben sollte. IQ bestimmt manche Karriere! Wo ist der EQ geblieben? Taktisch den Faschismus niederzuhalten gelingt nur, wenn ich der humanistischen Bildung einen neuen verstärkten Stellenwert gebe. Unter der fast alles niederhaltenden Forderung nach Ausbildung geht die Bildung verloren. Wo sollen die Kleinsten, die für ihr Rädchendasein in der Wirtschaft frühzeitig am Computer gedrillt werden, anständiges soziales Verhalten lernen? Lerne ich in Fachhochschulen, die prinzipiell für einen nahtlosen Übergang in den Arbeitsprozess konzipiert sind, neben Spezialwissen in einem EQ-Fach Mitleiden mit anderen Menschen? Viele Lehrer schieben die Menschenbildung den Eltern zu, die ihrerseits alles an die Schule delegieren wollen. Wer bleibt über? Ein Grundsatz, ohne Bildung keine Ausbildung verliert an Wahrheit, wenn unter dem Druck der Ausbildung Bildung marginalisiert wird. Ein Anfang wäre eine dezidierte Trennung in Bildung des Herzens und des Verstandes einerseits und Ausbildung für den Beruf andererseits. Wenn diese Art von Bildung in der Pädagogik Platz greift, kann die Ausbildung bei den Wirtschaftsbossen bleiben. Bis dahin bleibt als einzige Taktik: Gegen jedes neue Schwammerl ein fester Tritt mit dem Wanderschuh. Gibt es noch andere Möglichkeiten? Georg Tidl, Historiker, Publizist, Fernsehjournalist, stieß 1985 auf Ungereimtheiten im Lebenslauf des Kurt Waldheim, woraufhin er beim ORF mundtot gemacht wurde. Er betreute das Archiv des ORF und den Nachlass des Arbeiterdichters Alfons Petzold, betätigte sich als Librettist und Dramaturg, Gewerkschafter und Bezirksrat in Wien-Meidling. Von ihm erschien zuletzt das große Buch über seine Mutter: Marie Tial „Frieden Freiheit Frauenrechte“ (Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2018). Im Frühjahr 2021 Wird sein Roman „Rene oder Der andere Weg“ im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erscheinen.