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Charles Ofaire Voltaire — der Judenfreund Für Georges-Arthur Goldschmidt Es mehren sich in Deutschland in erschreckender Weise die Angriffe gegen die französische Aufklärung (sowohl in Universitätspublikationen und Dissertationen als auch in der Presse, im Fernsehen, im Internet, auf Wikipedia), der oft ohne Belege, aber unter Benutzung von falschen und faschistischen „Quellen“ der 1930er und 1940er Jahre des letzten Jahrhunderts und modernen getürkten Übersetzungen und unvollständigen Texteditionen offen Antisemitismus und Rassenhass angelastet werden. Bei ganz verschiedenartigen Intellektuellen hat sich die unsachliche und wütende Bekämpfung der französischen Aufklärer, an deren Spitze Voltaires, eingespielt durch unbelegte und unbelegbare Behauptungen, sie wären ganz generell Antisemiten, Rassisten etc. gewesen. Voltaire erscheint immer wieder als heftig attackiertes Standardbeispiel für übelste Spekulationen. In Frankreich weiß es jedes Schulkind: In seinem bekanntesten Werk, dem Kurzroman Candide (1759), hat Voltaire in exemplarischer pädagogischer Weise Themen abgehandelt, die ihn als vorbildlichen Aufklärer ausweisen: Verurteilung des Unrechtstaates, des Krieges, der Inquisition, des Sklavenhandels, des Rassismus, der Knabenkastration durch die Kirche, der Intoleranz etc. und eben auch des Antisemitismus. Im Kapitel 6 erreicht Candide, die Hauptfigur des Romans, Lissabon, das eben (1755) von einem Erdbeben heimgesucht worden ist, das große Teile der Stadt zerstört hat, worauf die Universität beschließt, Gott durch ein eindrückliches Autodafe und entsprechende Menschenopfer dahin zu bringen, ein weiteres Beben zu verhindern, das als Gottesstrafe interpretiert wird. Dazu werden willkürlich Opfer aufgegriffen, u.a. auch zwei arme Teufel, Portugiesen wohlgemerkt, die in ihrem Hunger sich noch ein Huhn haben beschaffen können, von dem sie, bevor sie es essen, sorgfältig den Speck, also das Fett, entfernen und wegwerfen. Die deutschen Übersetzer entstellen den Text meist dadurch, dass sie hinzufügen (Voltaire muss ja verbessert werden), dass die beiden den Speck achtlos (gedankenlos, unachtsam etc.) vom Fleisch des Huhns entfernt hätten. Damit wird der Text völlig verfälscht und seiner Sprengkraft beraubt. Durch ihre sehr wohl überlegte Entfernung des Fettes geben sich nämlich die beiden Hungerleider als gläubige Juden zu erkennen, was die Obrigkeit sogleich zum Anlass nimmt, die beiden bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen. Da sie am Erdbeben mitschuldig seien. Das einzige Unrecht, das die beiden begangen haben, ist es, Juden zu sein und sich als solche auszuweisen. Sie bekennen sich mutig und öffentlich zu ihrem Judentum. Das reicht für ein Todesurteil aus, das sofort vollstreckt wird. Das hat Voltaire mit einer analytischen Prägnanz in einer Dichte dargestellt, für die es in der Weltliteratur wohl nur wenige vergleichbare Beispiele gibt. Ein zweites Beispiel aus der vollständigen (!) Edition des 1752 in Angriff genommenen Dictionnaire philosophique geht noch an Eindringlichkeit über das Candide-Kapitel hinaus, weil der Verfasser hier für die Judenvernichtung seine eigene Betroffenheit, seine Mitschuld (!) und Mitverantwortung voller Mitgefühl mitbenennt, und zwar mit „tendresse“, ein erschütterndes Bekenntnis, das bis heute nie von einem deutschen Politiker ausgedrückt worden ist. (Wohl aber in Frankreich vom Staatspräsidenten Chirac): Wir haben euch während vieler Jahrhunderte zwischen zwei Hunden aufgeknüpft. Wir haben euch die Zähne ausgeschlagen, um euch zu zwingen, uns euer Geld zu geben. Wir haben euch aus Habsucht viele Male vertrieben und euch dann wieder zurückgeholt aus Geldgier und Dummheit. Wir lassen euch auch in mehreren Städten Steuern dafür bezahlen, damit ihr darin in Freiheit die Luft einatmen dürft. Wir haben euch in mehr als einem Königreich Gott geopfert. Wir haben euch als holocaustes verbrannt. Er spricht sie als „mes amis“ an, gebraucht holocaustes 1756 im modernen Sinn (der Terminus erscheint erst 1986 im Duden!), und dies in einer Zeit, da die bestehende Judenfeindlichkeit kein gesellschaftliches oder politisches Massenphänomen ist, das eine Judenvernichtung vorankündigen könnte. Aber eben: der luzide und sensible, mit Verstand und Herz an Randphänomenen der Geschichte und Gesellschaft stets interessierte Voltaire (er hat mehrere Justizopfer rehabilitiert, in seinem Anwesen Ferney 300 Flüchtlinge beherbergt) baut vor. Er ist hellsichtig wie niemand sonst in seiner Zeit. Er sagt, wie auch im Candide, was man erst aus der Auschwitz-Analyse eines Historikers nach 1945 meinte vernehmen zu können: Es genügt, Jude zu sein, um auf der Stelle verbrannt zu werden. Voltaire ist der erste Historiker im modernen Sinne, der Quellenarbeit betreibt, der die überlieferten Texte aufihren Wahrheitsgehalt und ihre Glaubwiirdigkeit hin untersucht und der — oft — den sehr alten Texten und Dokumenten einen fiktiven, mythologischen Charakter nachweist. In seinem Bekanntenkreis spielen Juden eine große Rolle: der Arzt Jean-Baptiste da Silva, ein gerühmter Leibarzt des ewigkranken Dichters; Pinto Isaac, ein Briefpartner; Mendez d‘ Acosta, ein aufgeklarter Banker... Die Hunderte von Seiten, die er den Juden und ihrer Geschichte widmet, zeugen von einem leidenschaftlichen Interesse an deren Geschichte, Religion und Verfolgung. Einzig die Geschichte Frankreichs und Chinas hat ihn im gleichen Sinn lebenslang beschäftigt. Voltaire interessiert sich zuerst für das Land Judäa, seine Bodenbeschaffenheit (er ist selber Bauer in Ferney), seine Nachbarn und stellt fest, dass seine Kargheit es darin hindert, im Wohlstand ein festes Ankerland aufzubauen. Es wird — geographisch ungünstig gelegen — früh zum Opfer mächtiger Nachbarn, die es versklaven. Halt findet es lediglich in der Religion, in dem Glauben an seine Auserwähltheit. (Eine Vorstellung, die dem Deisten Voltaire widerstrebt.) Seltsam erscheint ihm freilich, dass Gott sich nicht verwendet für das von ihm auserwählte Volk. Einsichtig ist ihm aber, dass diese Gewissheit des Volkes Israel dieses zu einer Einheit zusammenschweißt und ihm eine Stärke und eine Identität verleiht. Was wieder dazu führt, dass seine Gegner an Zahl zunehmen, die sein Unglück ausnützen und es beständig bedrohen, marginalisieren, ausstoßen oder gar niedermetzeln. Aus dem ihnen aufgezwungenen Randdasein leiten die Feinde der Juden eine unerbittliche Gegnerschaft gegen sie ab. Dieses verachtete Randdasein des Volkes Israel empört Voltaire, der es schon damals deutet als Verlockung zu dessen Ausrottung. Die den Juden zuteilwerdende generelle Misshandlung (unter den Feudalherren werden sie später immer materieller Besitz, „meubles“, sein) deutet er hellsichtig als möglichen Beginn von deren Dezember 2020 9