OCR
Jozej Strutz Fragment, Torso, Schlusspunkt? Als im Herbst 1930 Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ bei Rowohlt herauskam, über 1000 Seiten stark, war dies ein Festtag, nicht nur für den aus welchen Gründen auch immer schwer unterschätzten Autor, der mit seiner Frau Martha in Wien III, Rasumofskygasse 20, Tür 8, in einer überaus bescheidenen Wohnung lebte. Es war ein Feiertag für die Literatur schlechthin, was u.a. von Thomas Mann, Franz Blei, Efraim Frisch und Bernard Guillemin hervorgestrichen wurde. Nicht so von der österreichischen „Kulturpolitikskultur“, wie sie der Dichter bissig benannte, denn die Ehrungen und Preise gingen in jenen Jahren eher an patriotische Autoren, etwa ans „Kind der Stadt“ (Anton Wildgans) oder an den Kärntner Mythenerfinder Josef Friedrich Perkonig. Musils erster Band seines Romanprojekts, mit 123 ziselierten Kapiteln, vom „barometrischen Minimum“ über dem Atlantik, das ostwärts wandert, bis hin zum nostalgischen „Heimweg“ durch den dritten Bezirk und zur „Umkehrung“, als er durch die Nachricht vom Tod seines Vaters die lang ersehnte Annäherung Clarissens zurückweist und sich eines neuen Zustands bewusst wird, eine Veränderung spürt, „ein wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl [...] worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander [...]“ Heute, in der neuesten Ausgabe im Verlag Jung & Jung, sind für den ersten Band von 1930 zwei Bände mit jeweils über 550 Seiten veranschlagt (hg. v. Walter Fanta vom Klagenfurter MusilInstitut). 1930 war, trotz des Börsenkrachs ein Jahr zuvor, eine vergleichsmäßig ruhige Zeit, was binnen Jahresfrist ins Gegenteil umschlagen sollte. Musils Projekt, das Österreich von 1913 und seine Gesellschaft, die in den Krieg taumelt, darzustellen, erfährt von den Zeitereignissen neue, ungewollte Impulse. Die Erstarkung nationaler Kräfte in Deutschland, der Konflikt zwischen Rot und Schwarz in Österreich, der kriegsmäßige Formen annahm, belegen des Autors These vom „Hilflosen Europa“ (so ein Essay von 1922), das sich als unfähig erweist, einen stabilen kollektiven Gefühlskurs zu finden, ein ruhiges Gewässer, das das Staatsschiff tragen könnte. Musil publiziert 1933 den 2. Band seines „Mannes ohne Eigenschaften“, der einerseits die politischen Schwankungen mitreflektiert, andererseits aber in der an Hegel orientierten metaphorischen „Geschwisterliebe“ einen Ausweg aus den Reibungen und Widersprüchen seiner Zeit sucht. Die „Gartenkapitel“ mit Agathe zeigen Ulrich, den „Mann ohne Eigenschaften“, in einer neuen Existenzform, aufgehoben in jenem tragenden „Gefühl“, das nun mit dem Wort „Liebe“ umschrieben wird. Die „Reise ins Paradies“ wird, wie alles Reisen, verworfen, der Garten hinter dem Palais Salm in Wien III wird nun zur Projektionsbühne für alles, was auf der Welt von Gewicht ist. Tatsächlich blickte ja Musils Fenster im kleinen, hinteren Arbeitszimmer auf den Hof des Palais wie auch auf das östlich gelegene Palais Rasumofsky, eine Kulisse von grenzenlosem Horizont. Der Band 2 des Mannes ohne Eigenschaften umfasst nur 38 Kapitel, und bis zum 15. April 1942, Musils Todestag, an dem er im Genfer Exil das Kapitel „Atemzüge eines Soemmertags“ fertiggestellt hat, sind vom Autor nur mehr acht (der 20) „Druckfahnenkapitel“ und sechs Schweizer Kapitel als gültig anerkannt worden. Sie wurden von Martha Musil in dem Band „Aus dem Nachlass“ 1943 in der Imprimerie centrale Lausanne publiziert. Die Witwe, die kurz in Philadelphia bei ihrer Tochter Annina Rosenthal und später in Rom beim Sohn Gaetano Marcovaldi lebte, hat ebenfalls bezeugt, dass der Roman „unvollendet geblieben“ sei, etwa in einem kürzlich aufgefundenen Brief an W.A. Berendsohn. Dennoch, was vor uns liegt, die 123 Kapitel von Band 1, die 38 Kapitel aus Band 2 sowie die 14 Reinschriftkapitel, von „Wandel unter Menschen“ bis zum Atemzüge-Kapitel, lassen den unabweislichen Schluss zu, dass Musil hier, im literarischen Abseits, wie man sachlich feststellen kann, einen Schlusspunkt setzte, wenn er auch viele Linien (vor allem rund um Clarisse und die Parallelaktion) kappte, sodass der Roman kein Fragment geblieben, sondern aufgrund der Zeitumstände zum Torso geworden ist. Der in Klagenfurt geborene, in Steyr und Brünn/Brno sozialisierte Schriftsteller, der zumindest zwanzig Jahre seines Lebens in Wien verbrachte, hat in der Bundeshauptstadt niemals ein echtes Daheim gefunden. War er zu schwierig, zu distanziert in seiner ironischen Schreibweise, zu „exaltiert“ in seiner Suche nach dem „anderen Zustand“? Wien hätte nun ein Jahrzehnt Zeit, um zu seinem 150. Geburtstag und zum 100. Geburtstag des „Mannes ohne Eigenschaften“ etwas zu tun. Was? Nun, das Kapitel 116 trägt die schöne Überschrift „Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung nach einem Generalsckretariat der Genauigkeit und Seele“. Das wäre schon etwas: Zwei Musil-Lindenbäume im dritten Wiener Bezirk. Blick in den Garten des Palais Salm, Wien Ill. Foto: Jozej Strutz. Dezember 2020 13