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Erich Hackl Mit Theodor Kramer auf der Welt sein Rede zur Verleihung des Theodor Kramer-Preises für Schreiben im Widerstand und im Exil, Niederhollabrunn, 11. September 2020 Wenn man alt und müd wird, fängt man an, sich selbst über die Schulter zu blicken. Der pensionsreife Schriftsteller also dem zweiundzwanzigjährigen Lehramtskandidaten für Deutsch und Spanisch, der in der Wohnung seiner Freunde Adalbert und KarlMarkus Gauß in der Salzburger Hans-Sachs-Gasse einen Aufsatz zu schreiben beginnt: „Zum erstenmal las ich Theodor Kramers Gedichte auf dem Umschlag eines schmales Hefts, das ich zufällig aus einem Buchregal zog, über einer wunderschönen Titelvignette, auf der ein ländlich wirkendes Paar abgebildet war, die Frau trug ein Kopftuch und hielt einen Strauß langstieliger Wiesenblumen, der Mann hatte den rechten Arm um sie gelegt und schaute ein wenig missmutig, als sei er von der Zeichnerin — Ruth Knorr — eben bei einer Unschicklichkeit ertappt worden, vielleicht lächelte er auch bloß unter dem gesträubten Schnurrbart. Das Kind neben ihm sah mich neugierig an, mit der einen Hand hielt es eine kleine Fahne, mit der anderen führte es eine Ziege mit prallem Euter. Die Katze vor dem Ziehbrunnen saß gespannt und aufrecht am unteren Bildrand, aber ihr Schwanz lag ruhig am Boden. Im Hintergrund saßen vor der strohgedeckten Hütte zwei Menschen an einem roh gezimmerten Tisch, sie hielten riesige Gläser prostend erhoben. Die beiden Vögel auf dem Dach waren voneinander abgewandt und blickten in entgegengesetzte Richtungen. Dahinter war der Zwiebelturm einer Kirche zu schen, und am Horizont ging die Landschaft in den ein wenig helleren Himmel über. — Diese naive, ruhige Zeichnung stellt zweifellos eine Idylle dar; dem Beschauer wird ein Ausschnitt aus einem friedlichen und einfachen ländlichen Leben geboten. Dass so ein Leben nicht immer friedlich und auch nicht immer so einfach abläuft, das erfuhr ich auf den knapp dreißig bedruckten Seiten dieses ‚Poesicalbums 96°. Die darin enthaltenen Gedichte stammen von einem bei uns immer noch vergessenen Schriftsteller, vom Österreicher Theodor Kramer.“ Wie dem Eigenzitat und dem Erscheinungsjahr des Aufsatzes, 1977, zu entnehmen ist, liegt meine Entdeckung Kramers lange zurück. Mit der Begeisterung für seine Gedichte habe ich als ersten Karl-Markus Gauß angesteckt, der sechs Jahre später einen grundlegenden Essay über „Iheodor Kramer und einige Stereotypien der Literaturwissenschaft“ schreiben sollte - ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Unvergesslich sind mir unsere mehrtägigen Wanderungen durch die Wachau und das Weinviertel geblieben, 1976 zu Fuß, 1977 mit dem Rad, die Gauß und mich von Melk über Krems hierher nach Niederhollabrunn führten, wo Kramer als Sohn des jüdischen Gemeindearztes Max Kramer und seiner Frau Babette achtzig Jahre zuvor geboren war. Insgeheim hofften wir, hier noch Spuren von ihm zu finden, aber ich vermag nicht mehr zu sagen, ob wir das ebenerdige Gebäude auf dem Kirchberg, in dem ein Kindergarten untergebracht war, als das chemalige Doktorhaus erkannten oder ob wir ahnungslos an ihm vorübergingen, che wir leicht enttäuscht über die Diskrepanz zwischen Kramers lebensvollen Gedichten und der aufreizenden Leere im Dorf nach Wien weiterradelten. Dort trennten sich unsere Wege; während Gauß mit dem Zug zurück nach Salzburg fuhr, nahm ich tags daraufam Protestmarsch gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf teil. Ich erwähne ihn nicht so sehr deshalb, weil er mir als 16 _ZWISCHENWELT Erinnerungsstütze für die Datierung unserer säkularen Wallfahrt gedient hat, sondern weil er den gesellschaftlichen Kontext andeutet, in dem sich die Kramer-Renaissance in der Folgezeit entfalten sollte. Die unbedingte Fortschrittsgläubigkeit der Sozialdemokratie ging mit einer hurtigen Modernisierung um den Preis der Beseitigung all dessen einher, was ökonomisch nicht verwertbar schien, und stand damit in schroffem Gegensatz zu Kramers Dichtung. Deshalb erschien mir die Strecke von Tulln nach Zwentendorf, die der Demonstrationszug an einem glühend heißen Junitag zurücklegte, auch als weitere Etappe unserer Wanderungen auf Lehm, Löß und Asphalt. Ich war mir sicher, dass Kramer mit den AKW-Gegnern sympathisiert hätte; lebte er noch — dachte ich -, dann würde er ein Gedicht über sie schreiben. EIf Jahre später kehrte ich nach Niederhollabrunn zurück, um bei einer Tagung der inzwischen gegründeten Theodor Kramer Gesellschaft einen Vortrag zu halten, in dem ich drei Aspekte seines Werks hervorhob, die mich besonders ergriffen hatten. Erstens war ich in den Versen der Welt meiner Eltern wiederbegegnet, und damit ihrer auf dem Land, im bäuerlichen oder handwerklichen Milieu, aufgewachsenen Generation, und hatte dabei vieles von dem gefunden, das durch ihre Erzählungen aus Kindheit und Jugend auf mich gekommen war: Härte und Verlassenheit, Mangel und Übermut, Eigensinn und Sehnsucht nach Gemeinschaft. Zweitens die Einforderung einer betörend schlichten, geografisch klar umrissenen Landschaft, die für mich — von Steyr aus gesehen — jenseits der Enns begann und Weinviertel, Marchfeld und Burgenland einschloss, Gegenden also, die den weiten Horizont versprachen, der mir zwischen den Tälern und Almen der Voralpen fehlte. Dazu die Randbezirke der Großstadt, staubige Straßen, Gstattn, Hinterhéfe, all das, was mir als Kind, das einmal im Jahr die Großtante in Ottakring besuchen durfte, Wien bedeutete. Auch in meiner Geburtsstadt hatten mich solche Viertel früh angezogen, die verwinkelten Gassen von Steyrdorf und der Wehrgraben mit seinen Gerinnen, alten Fabriken und ewig feuchten Arbeiterwohnungen. Drittens die Überzeugung, dass Kramer seinem Anspruch, Stimme derer ohne Stimme zu sein, gerecht wurde. Was er schrieb, war keine Elendsdichtung, keine lyrische Genremalerei, keine Anbiederung an die Stromer, Schnitter, Kellnerinnen, Zimmermaler, Eisenbahner, Prostituierten, die seine Gedichte bevélkern. Unbewusst aber hatte ich in meinem frühen Aufsatz Kramers Dichtung in ihrer Bedeutung noch höher eingeschätzt, das verraten die Namen anderer Schriftsteller, mit denen ich sie aus dem Käfig der Heimatkunst bzw. der ‚Neuen Sachlichkeit‘, in den die Philologen sie sicherheitshalber gesperrt hatten, holen und in die Weite der Weltliteratur stellen wollte: des Ungarn Attila Jözsef, des Peruaners César Vallejo, des in London ansässigen Österreichers Erich Fried (von dessen Exilfreundschaft mit Kramer ich damals nichts wusste). Nicht zufällig zitierte ich mit Stephan Hermlin und Bernd Jentzsch zwei Schriftsteller aus der DDR - ich hätte auch ihre Landsleute, den Dichter Wulf Kirsten, die Literaturwissenschaftlerin Silvia Schlenstedt oder die Lektorin Marianne Dreifuß, nennen können, denn dort, im nachmalig verunglückten Arbeiter- und Bauernstaat, wurde Kramer in den Siebzigerjahren viel stärker wahrgenommen als in Österreich. Dass fast gleichzeitig mit mir der Autor und Musiker Hans-Eckardt Wenzel Kramer für sich entdeckt hat, sollte ich erst Jahre später erfahren.