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Haltbar an meiner Kramer-Verehrung war die Einsicht, dass der Dichter aus einem immensen Fundus an beobachteten, erlebten oder erlesenen Handlungen, Fertigkeiten und Regungen geschöpft und dafür eine Sprache gefunden hat, die möglichst einfach und zugleich vielfältig ist, reich an Nuancen und Begriffen. Die feste Bauart seiner Gedichte, ihr balladesker’Ton, der Endreim war nicht dem Festhalten an Konventionen geschuldet, sondern Ausdruck seiner Überzeugung, dass die Menschen am Rand ungeachtet aller Bedrängnis imstande sind, sich einen Reim aufihre Existenz, und die ihrer Lebens- und Leidensgefährten, zu machen. Trotz seiner bildmächtigen Sprache kam Kramer ohne Metaphern aus. Lernen ließ sich von ihm, für mich, dass die Zuneigung, Fürsorglichkeit des Autors gegenüber seinen Heldinnen, Helden aus der Formgebung des Materials resultieren muss. Bezeichnend ist, in diesem Zusammenhang, der Hinweis des Musiksoziologen Kurt Blaukopf — in einem ungemein anregenden Gesprächsprotokoll von Konstantin Kaiser aus dem Jahr 1983 —, dass Kramer behauptet habe, beim Schreiben eines Gedichts als erstes das Metrum zu verzeichnen. Auf sein Formbewusstsein verweist auch Kramers poetologische Skizze von 1931, derzufolge er den Gefühlsinhalt eines Gedichts in den Aufbau zu verlegen versuche; „die Worte wähle ich möglichst karg und dinglich“. Das erinnert mich an die Arbeitsweise der uruguayischen Lyrikerin Idea Vilarifio, deren Gedichte ich übersetzt und mit der ich mich angefreundet hatte. Für sie war die Beschäftigung mit den prosodischen Elementen eines Gedichts wichtiger als dessen Inhalt. „Denn wie transzendent oder intensiv seine Aussage auch sein mag, ob es wirklich ein Gedicht ist oder nicht, hängt von der Abfolge seiner Laute ab, von seinem Rhythmus, davon, wie es gesagt wird.“ Dabei wurden Vilarinos Verse, wie die Kramers, gerade wegen ihrer Eindringlichkeit als kunstlos wahrgenommen. Jedenfalls sind nicht der Einfall, die Fabel oder der Stoff fiir das Gelingen eines literarischen Vorhabens ausschlaggebend, sondern deren gestalterische Anverwandlung. Eine Binsenweisheit, könnte man glauben. Nur wird sie in der Literaturkritik zumeist auf Ratgeber- und Nörglerniveau erörtert. Meiner Kramer-Verehrung lag auch das Bedürfnis zugrunde, auf der Suche nach Gleichgesinnten in die Geschichte zurückzugehen. Ich sah das nicht als Flucht aus einer farblosen, widrigen Gegenwart, sondern als Übernahme einer rebellischen Tradition, die einem helfen kann, nicht klein beizugeben. „Es gilt, Österreichs Vergangenheit nach republikanischen, demokratischen und sozialistischen Elementen zu durchforschen“, hatte ich, etwas vollmundig, in meinem ersten Aufsatz geschrieben. Gefährten, Gefährtinnen für dieses Unterfangen sollte ich — von Karl-Markus Gauß abgesehen — einige Jahre später unter den Proponenten und Aktivisten der Theodor Kramer Gesellschaft finden. Ihre geistreichen Studien zu Kramers Leben und Werk und ihre Hinwendung zu anderen vertriebenen und vergessenen Schriftstellern haben mich inspiriert und bestärkt. Das trifft in erster Linie auf Konstantin Kaiser zu. Wir lernten uns im Herbst 1982 kennen, in Wien, wo er in der Galerie in der Künstlerhauspassage arbeitete und ich meinen Zivildienst ableistete. Kurz darauf besuchten Gauß und ich ihn und Siglinde Bolbecher in ihrer Wohnung in der Engerthstraße; noch ahnte ich nicht, dass wir dort wenige Jahre später Nachbarn werden sollten. Hier ist nicht der Platz, um über Höhen und Lücken unserer Freundschaft zu sprechen; wohl aber dafür, seine Bedeutung für meine geistige Entwicklung zu bezeugen. So schwer es mir fiel, seinen Ausführungen zu Literatur, Geschichte, Philosophie, Politik — überhaupt zu allen Aspekten des Menschseins — zu folgen, so bereichernd waren diese für mein schwerfälliges Denken, das eher, nach einem Wort Eduardo Galeanos, eine Art Fühldenken war und bis heute geblieben ist. Kaisers Einfluss auf mich erweist sich daran, dass er unter allen Autorenkollegen derjenige ist, den ich in meinen Schriften am meisten zitiert habe: weil mir seine Überlegungen und Erkenntnisse immer dann auf die Sprünge geholfen haben, wenn ich nicht weiterwusste. Kaiser war es auch, der Gauß und mir vorschlug, einen Aufsatz über „Iheodor Kramers literaturgeschichtliche Stellung“ zu verfassen. „Das Interesse einer wohlverstandenen Literaturgeschichte kann nicht sein, die Autoren und ihre Werke gleichsam in homogene Literaturperioden einzusperren; sie hat die Widersprüche in jeder Phase aufzudecken und mit den Widersprüchen die Hoffnungen und Möglichkeiten, von denen jede bedeutende Kunst Zeugnis ablegt. Das Denken in homogenen Perioden (das methodologisch stets auf Tautologien beruht) schaltet ja die Kämpfe, die in einem bestimmten Stadium der historischen Entwicklung geführt worden sind, aus der Literaturbetrachtung aus und dient letztlich dazu, eine ‚aparte‘, nur in sich selbst ihre Voraussetzungen suchende Literaturgeschichte zu konstruieren.“ Kaiser war auf uns gekommen, weil wir ihm als Bundesgenossen im Streit um „Arten und Unarten einer Literaturbetrachtung“ erschienen. Unter diesem Titel hatte ich im Juni/August-Heft 1982 des „Wiener Tagebuch“ Wendelin Schmidt-Denglers Fleißarbeit über „Gedicht und Veränderung. Zur österreichischen Lyrik der Zwischenkriegszeit“ zerzaust. Der künftige Wiener Germanistikpapst hatte darin ein haarsträubendes Fehlurteil über Kramer und andere naziimmune Dichter gefällt, indem er sie mit Weinheber, Billinger und Konsorten zusammengewürfelt und allen zusammen „keine Veränderung in sprachlicher Hinsicht, Ablehnung der Stadt und Technik, Idyllisierung der Natur, Abstinenz von nahezu jeglicher aktualitätsgebundenen Aussage“ attestiert hatte. Gauß nahm Kaisers Vorschlag sofort an und schickte mir als Arbeitsgrundlage ein achtseitiges Konzept, das in seinem kritischen Gehalt, seiner Klarheit und Stoßrichtung schon alles enthielt und übertraf, was ich zur Sache beitragen hätte können. Deshalb zog ich mich aus dem Projekt zurück; Gauß‘ Aufsatz erschien im Jahr darauf unter dem Titel „Natur, Provinz, Ungleichzeitigkeit“ im "Theodor Kramer-Sonderband der Zeitschrift „Zirkular“. Er stellt nicht nur deshalb eine Zäsur dar, weil in ihm der Nachweis erbracht wurde, dass sowohl Kramers Aufwertung von konservativer als auch seine Abwertung von pseudoprogressiver Seite wie der SchmidtDenglers — jeweils mit den gleichen, nur gegensätzlich bewerteten Befunden - jeder Grundlage entbehrten, sondern weil Gauß das von Ernst Bloch entlehnte Konzept der Ungleichzeitigkeit einbringt, um in der „dingversessenen Lyrik“ Kramers einen Autor auszumachen, der sich der Widersprüchlichkeit seiner Zeit gestellt hat; einen, „der weit über das Bestehende, weit auch über dessen Negation hinausweist, ein auch heute noch: zukünftiger Autor, der selbst in den traurigsten Liedern mehr Utopie von menschlichen Zuständen gestaltet als die meisten Rhetoriker der Befreiung“. Anders als bei Gauß und bei mir, standen bei Kaiser von Anfang an Kramers Exilerfahrung und die daran geknüpften Ängste, Erschütterungen und Enttäuschungen nach 1945 im Zentrum seiner Arbeit. Einmal wollte er mich für ein gemeinsames Projekt über „Die Rückkehr des Theodor K.“ gewinnen. Ihm schwebte eine dramatische oder radiophone Weiterführung eines Essays vor, den er im September 1983 unter dem Titel „Warum einer nicht nach Hause kommt. Theodor Kramers langsame Heimkehr aus dem Exil“ veröffentlicht hatte. Das Elend Österreichs nach der Dezember 2020 17/