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Bernhard Kuschey Der Coronavirus-Ausnahmezustand gibt auch Zeit zu lesen und zu schreiben. Überdies können die Covid-19-Pandemie und die darauf reagierenden Ausnahmezustände als Krise im Verhältnis von Natur, Gesellschaften und Individuen verstanden werden. Kann das Überspringen der Viren von Tieren auf Menschen als Ausdruck der zunehmenden Vergewaltigung der Natur durch ausbeutende Gesellschaften interpretiert werden? Die rasante Ausbreitung des neuen und aggressiven Virus ist Konsequenz der globalen Verflechtung der Welt, in der ausbeuterische Arbeitsteilung und gebietende sogenannte „Lieferketten“ eine Kontinente überspannende Kommunikation nach sich ziehen. Der Weg der Viren wird durch einen globalen Kapitalismus und durch dessen Subsystem des Tourismus ungemein erleichtert, wiewohl schon die alte Pest erstaunliche Wege fand. Werden der totalitäre Überwachungsstaat Volksrepublik China und die asiatische Disziplin und Selbstdisziplin in Südkorea die Corona-Epidemie unter Kontrolle bringen? Hat die sympathische Kultur des Zusammenlebens in Italien zum heftigen Ausbruch der Epidemie geführt oder doch cher das Ausdünnen der sozialen Strukturen oder des Gesundheitswesens durch „Berlusconi“ — gemeint ist die neoliberale Wendung unter ihm — und die Lega und wohl auch andere politisch Unverantwortliche? Ist die gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit schon so groß, dass das Abstandhalten nur mehr erzwungen werden kann? Umgekehrt muss es als zivilisatorischer Fortschritt gewertet werden, dass der Schutz besonders verwundbarer Personengruppen hohe Priorität genießt... Helmut Dahmer: Die unnatürliche Wissenschaft. Soziologische FreudLektüren, 2. Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot 2019, 273 Seiten. Helmut Dahmer ist ein Polyhistor, der beständig schreibt. Er ist offensichtlich in einem „alternativen“ Netzwerk, das ihn regelmäßig fordert. Aber er behält seinen Fokus, nämlich die Analyse der behindernden, wenn nicht gar versteinerten, Verhältnisse parallel zur Suche nach Wegen zur Befreiung. Daher lassen sich seine einzelnen Artikel, die in sich historisch kritische Meisterwerke sind, leicht zu Büchern eines vielfältig beleuchteten Themas sammeln. Er ist ein gesellschaftskritischer Soziologe, dessen Blick auch auf die Möglichkeiten und Fesseln der menschlichen Psyche gerichtet ist, der also die Gesellschaftskritik in eine Sozialpsychologie zu erweitern trachtet, damit die vergessenen Bestände einer sozial- und kulturkritischen Psychoanalyse wieder nutzbar werden können. Er scheut sich auch nicht, die Arbeiten des großen Freud selbst unter die Lupe zu nehmen, Erstaunliches in ihnen freizulegen und sie gegebenenfalls auch zu revidieren. So ortet Dahmer in Freuds Versuch, die Psychoanalyse wissenschaftstheoretisch zu positionieren, einen folgenreichen Selbstwiderspruch. Wohl um der Psychoanalyse Anerkennung und Respekt zu verschaffen, definierte Freud sie als Naturwissenschaft. Aber geht es in der psychoanalytischen Kur, der psychoanalytischen Theorie und den kulturwissenschaftlichen Arbeiten von PsychoanalytikerInnen vorrangig um die Natur des Menschen, fragt Dahmer. Geht es nicht vielmehr um die soziale und kulturelle Entstehung und Gewordenheit des Menschen, um die Bedingungen seiner Entwicklung, um das Brechen des Wiederholungszwanges, also um die Befreiung von den versteinerten Traditionen in den Menschen? In der Psychoanalyse hat sich das Interesse der Forschung von „Objekten“ auf das Subjekt verschoben. Die Psychoanalyse studiert die Lebensbedingungen der Menschen und wie die die Psyche und die Lebensrealität der Menschen qua Eltern, Bildungseinrichtungen und Institutionen bestimmen, therapeutisch versteht sich die Psychoanalyse als „weltliche Seelsorge“. Die Psychoanalyse ist also eine Hermeneutik der Subjekte und nicht nur der Texte, und sie beschäftigt sich vorrangig mit dem, was Menschen sich im weitesten Sinn „geschaffen“ haben und nicht mit dem, wodurch sie durch Natur prädestiniert sind. Dahmer versteht die Psychoanalyse daher als „unnatürliche Wissenschaft“, die ihre Aufgabe nicht im Erforschen von Unentdecktem und Fremdem sieht, sondern im kritischen Erfassen des Nahen, Bekannten und Gewohnten. Die kritische Erfassung des Nahen und seine möglichst gute Umwandlung sollte das Ziel dieser „unnatürlich-kritischen“ Wissenschaft von Kultur, Soziologie und Psychologie sein. Dahmer hat den Begriff der „unnatürlichen Wissenschaft“ der „Fröhlichen Wissenschaft“ Friedrich Nietzsches entnommen, die auch von Freud stark rezipiert worden ist. Überhaupt zeigt Dahmer ein Panorama der Theorieentwicklung im 19. Jahrhundert, auf das sich Freud bezog und auf dem er aufgebaut hat. Die Verknüpfung der Stränge der Theorieentwicklung sind eine spannende Lektüre, die hier nicht verraten werden soll. Diese Leseanleitung für Krimis verdeckt, dass es mir schwerfällt, diese geistigen Linien nicht platt zusammen zu fassen, aber ich versichere, dass es Dahmer versteht, die komplexen Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen. Freud stellte sich gegen die Illusion der „Ich-Autonomie“, die der Liberalismus des 19. Jahrhunderts propagierte. Er wusste, dass der Mensch nicht der Herr/die Frau seiner selbst ist und das „Ich“ zwischen Unbewussten und der gebietenden Moral eingezwängt ist. Die Kapazitäten der bewussten, rationalen Reaktion sind also klein, während die Beeinflussung durch fordernde Triebe und meist dysfunktionale Moralen schwer zu beherrschen ist. Schon im einzelnen Individuum hat es das Bewusstsein schwer sich durchzusetzen, aber erst im gesellschaftlichen Zusammenhang wird es ganz schwierig für die Bewusstheit, da Herrschaft Gefolgschaft fordert und kritische Autonomie zu einem raren Gut wird. Deshalb war Freud skeptisch hinsichtlich einer positiven zivilisatorischen Entwicklung. Spätestens ab den 1930er Jahren wurde Freud ganz pessimistisch, er begann an den bevorstehenden Sieg der Gegenaufklärung und der Barbarei zu glauben. Daher erstaunt es schr, dass Freud die Psychoanalyse ab 1932 zu einer unpolitischen Wissenschaft umzuformen begann in der Illusion, dass sie sich mit den neuen Machthabern arrangieren könnte. Die im antifaschistischen und linken Widerstand befindlichen PsychoanalytikerInnen wurden aus der psychoanalytischen Bewegung „ausgeschieden“, gerade jene, die sozialpsychologisch die Faschisierung der Gesellschaft zu verstehen suchten. Dahmer zeigt eindrucksvoll, wie den psychoanalytischen Dissidenten mitgespielt wurde und wie sie zu Getriebenen werden mussten. Beschwichtigungspolitik gegenüber brutaler, nationalistischer und rassistischer Aggression war bis 1939 gleichsam „normal“. Findet nicht auch Dezember 2020 19