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heute, wenn von „Flüchtlingskrise“ geredet wird, eine vergleichbare Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Massenmörders Assad und seinem Regime durch den „freien Westen“ statt? Das Zerstörungspotential der großen (Bürger-)Kriege der 1930er und 1940er Jahre war enorm und es ließ auch die psychoanalytische Bewegung nicht unbeeinflusst. Die PschoanalytikerInnen wurden aus Europa verdrängt und in den USA marginalisiert, d.h. nur Ärzte durften die Psychoanalyse ausüben. Damit wurde die Psychoanalyse in Übersee zur Behandlungstechnik reduziert und die sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Seite der Psychoanalyse verfiel. Kein Wunder, dass die kulturwissenschaftlichen Schriften Freuds, die hauptsächlich in den 1920er und 1930er Jahren entstanden, fast komplett der Häme verfielen. Was wurde am Moses-Buch von Freud, seinem letzten großen Werk, herumgemäkelt, zweifellos war viel historische und religionspsychologische Spekulation darin, die aber neuerdings z.B. vom geachteten Ägyptologen Jan Assmann rehabilitiert worden ist. Er betrachtet den „Mann Moses“ als einfühlsame Studie über den Übergang vom Poly- zum Monotheismus samt den psychologischen Auswirkungen dieser großen Wende. Dahmer hofft auf die Wiederbelebung der sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Tradition der Psychoanalyse, allerdings sicht man in seiner Arbeit, welche theoretischen Voraussetzungen und welches Wissen dafür von Nöten sind. Wird es FortsetzerInnen geben? Helmut Dahmer: Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis, Münster: Westfälisches Dampfboot 2019, 525 Seiten. Nach dem Versuch der Fruchtbarmachung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Seite der Psychoanalyse hat Helmut Dahmer einen „Ziegel“ vorgelegt, in dem er darstellt, welche Antworten linke Theoretiker des 20. Jahrhunderts auf die Katastrophen und Brüche desselben gefunden haben. Er hat die Arbeitsweise der „Unnatürlichen Wissenschaft“ beibehalten - zuerst Teilanalysen in Zeitschriften, die dann in einem Überblickswerk zu einem großen Thema versammelt werden. Allerdings finden sich in diesem neuen Buch viele Originalbeiträge, Dahmer hat also viel Kraft auf die Komposition dieses Opus Magnum verwandt. Dahmer wählte einen originellen Ausgangspunkt für seine Studie: die Benützung der Psychoanalyse durch Nationalsozialisten im Gegensatz zur Anwendung der Psychoanalyse für soziale und gesellschaftliche Fragen durch die so genannte „Frankfurter Schule“. Dahmer war einer derjenigen, die die Verleugnung des nationalsozialistischen Missbrauchs der Psychoanalyse durch die Nachkriegs-PsychoanalytikerInnen, vor allem in der Zeitschrift „Psyche“, aufdeckten. Die Überbringer schlechter Nachrichten werden zwar nicht mehr geköpft, aber doch heftig sanktioniert, d.h. für unzurechnungsfähig marxistisch, wenn nicht gar für verrückt erklärt. Wäre Dahmer praktizierender Psychoanalytiker gewesen, hätte er um seinen Lebensunterhalt fürchten müssen. Umgekehrt ist es kein Zufall, dass sich professionelle AnalytikerInnen nicht wirklich mit diesem belastenden Thema auseinandersetzten. Dahmer konnte als Universitätsangehöriger die Umwandlung der Psychoanalyse in eine „arische“ Wissenschaft, auch durch Verfolgung und Vertreibung ihrer jüdischen „nicht-jüdischen“ Pioniere, nachweisen und zeigen, dass die politische Abstinenz der Psychoanalyse, die Sigmund und Anna Freud forderten, diese Umwandlung in Deutschland erleichterte (siehe oben). Für die psychoanalytischen Vereinigungen in Mitteleuropa nach 1945 war die Involvierung der 20 ZWISCHENWELT „atischen Psychologie“ in das NS-Regime schwer zu bearbeiten, weil ihr anfänglicher Personalbestand selbstverständlich nur aus der belasteten NS-Zeit kommen konnte. Die arischen „Dableiber“ mussten mit einer technizistischen Verwendung der Psychoanalyse durch das NS-Regime leben, die exilierten PsychoanalytikerInnen hatten um ihr Überleben und ihre Berufszulassung in den Exilländern zu kämpfen, auch das hat der Weiterentwicklung der Psychoanalyse alles andere als gut getan. Der „Frankfurter Schule“ war schon früh klar, dass eine moderne Soziologie ohne Erweiterung durch die Freudsche Psychologie nicht auskommen kann. Außerdem betrachteten Adorno und Horkheimer die Freudsche Theorie seit den 1920er Jahren als die zeitgendssische Philosophie. Sie verwahrten sich gegen eine einfache Vereinigung von Gesellschaftskritik und psychoanalytischen Erkenntnissen, sondern setzten vielmehr darauf, dass die logischen Widerspriiche zwischen gesellschaftlichem und psychologischem Wissen fruchtbar werden kénnen. Diese Rezeption der Psychoanalyse ermöglichte die Entwicklung von neuen sozialpsychologischen Studien in den USA, wie jene über die autoritäre Persönlichkeit. Während die Psychoanalyse in Europa durch eine Art „Arisierung“ vernichtet wurde, konnte die Freudsche Theorie im Exil in einer gesellschaftskritischen Soziologie und Psychologie genutzt werden. Nach diesem Auftakt, der die Möglichkeit der antagonistischen Verwendung der psychoanalytischen Theorie in den 1930er und 1940er Jahren deutlich machte, springt Dahmer in die theoretische Durchdringung des neuen Dreißigjährigen (Bürger-)Krieges und damit in die Erkundung der kurzen revolutionären Phase nach dem Ersten Weltkrieg und die darauffolgende konterrevolutionäre Phase, die in Faschismen und Stalinismus sowie im einstweilen größten Krieg der Geschichte und in Massenverbrechen mündete. Er beginnt mit der Gründung des „Instituts für Sozialforschung“, die im Zusammenhang mit dem nicht dogmatischen „Marx-Engels-Institut“ in Moskau stand. Gemeinsam sollte eine Werkausgabe der Arbeiten von Marx und Engels entstehen, mit der Stalinisierung wurde die Zusammenarbeit eingestellt und bald sollten die Moskauer Forscher der Verfolgung anheimfallen. Am Ende der revolutionären Phase 1923 trafen sich in Thiiringen meist kommunistische Intellektuelle zu einer „Marxistischen Arbeitswoche“, unter ihnen Karl Korsch und Georg Lukäcs sowie der Gründer und Finanzier des „Instituts für Sozialforschung“, Felix Weil. Mit diesem Kreis rund um das „Institut für Sozialforschung“ begannen Dissidenten aus der Sozialdemokratie und den kommunistischen Parteien zu kooperieren. Alle, die vom Dogmatismus und Pragmatismus der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Internationale angeödet waren, fanden neue und meist produktive Arbeitszusammenhänge. Denen geht Dahmer nach, indem er ihre Reaktion auf die beginnende reaktionäre Welle freilegt. Zuerst wurde die Bonapartismus-These von Marx bemüht, um den Aufschwung konterrevolutionärer Kräfte zu verstehen. Aber bald ging es auf theoretisches Neuland, wenn ein „Staatskapitalismus“ analysiert wurde, der sich auch auf die Sowjetunion bezog, wenn ein „autoritärer Staat“ und ein „autoritärer Charakter“ Untersuchungsgegenstand wurde und Adorno von „massenfeindlichen Massenbewegungen“ zu reden begann, wie sie sich in den „Schwarzhemden“ Mussolinis und der SA Hitlers, aber wohl auch in den jungen Komsomolzen Stalins zeigten. Helmut Dahmer beweist sich als großer Geschichtsschreiber, der die Begegnungen der Denkenden und deren gegenseitige Befruchtung darzustellen versteht. Zuerst spielen sich diese Begegnungen vor allem zwischen Deutschland und Moskau ab, in