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die ein illustrer Kreis eingebunden ist. Kapitelüberschriften zeigen die Verflechtungen: „Gelehrte der Bewegung“, Moskaureisende, Wissenschaftler, Agenten. Vor allem in den 1920er Jahren reisen viele mittel- und westeuropäische Intellektuelle in das Faszinosum Sowjetunion, um dort oft zu erkennen, dass die sowjetische Realität nicht so faszinierend ist, wie sie von außen scheint. 1927 überliefert Walter Benjamin den Besuch Joseph Roths: „Er ist als (beinah) überzeugter Bolschewik nach Rußland gekommen und verläßt es als Royalist.“ Oder: Richard Sorge kam aus dem Kreis des „Instituts für Sozialforschung“ und wird in Moskau zum Agenten ausgebildet. Er wird in Japan herausfinden, wann Deutschland die Sowjetunion angreift, was Stalin missachtet, und dass Japan die Sowjetunion nicht parallel angreifen wird, was ermöglicht, die sibirischen Divisionen in die Abwehrschlacht vor Moskau zu werfen. Stalin lässt den dann aufgeflogenen Sorge nicht austauschen, daher wird er von den Japanern hingerichtet; Stalin fürchtete wohl einen Zeugen seiner Ignoranz. Mit diesen beiden Geschichten deute ich nur die erstaunliche Vielfältigkeit der Beziehungen der Intellektuellen der Zwanziger und Dreißiger Jahre an; das Panorama dessen, was sich da abgespielt hat, ist nicht in Kürze zu skizzieren. Ich kann nur wiederum auffordern, auf eine äußerst überraschende Lesereise mit diesem Buch zu gehen. Als letzten Abschnitt dieses großen Il. Teils des Buches untersucht der Herausgeber der Werke Trotzkis, Helmut Dahmer, wie der große Theoretiker Leo Trotzki die Denker des „Instituts für Sozialforschung“ beeinflusst hat. Der Organisator der „Roten Armee“ wurde zwar vorsichtig beäugt, aber seine Exilschriften über das Scheitern der Russischen Revolution und den Stalinismus wurden stark rezipiert. Besonders Rosa Luxemburg genoss bei Max Horkheimer, der selbst in der 1918er Revolution in Arbeiterräten engagiert war, hohes Anschen, und ihre Auffassungen hatten viele Parallelen zu jenen Trotzkis. Aber die Beeinflussungen der „Frankfurter Schule“ sind nicht leicht festzumachen, weil sie schon in Deutschland, aber dann besonders in den USA ihre marxistische Herkunft camouflieren musste. Dahmer leistet gute hermeneutische Arbeit, um die Tarnbegriffe zu dechiffrieren und den Zusammenhang zur „älteren“ marxistischen Theorie herzustellen. Für mich klingen die Interpretationen Dahmers nachvollziehbar und faszinierend, aber kenne ich die gesamte verarbeitete Literatur und kann ich die genannten Querverbindungen werten? Aber gibt es nicht genügend Spezialisten für die „Frankfurter Schule“? Leider lebt Heinz Steinert nicht mehr, der hätte sich zweifellos kritisch auf seinen Fachkollegen beziehen können. Aber prinzipiell stellt sich die Frage, ist die Bezugnahme auf Arbeiten im gleichen Feld und ihre kritische Bewertung aus der Mode gekommen? Mir würde eine „fachliche“ Bewertung dieses materialreichen, verschlungenen aber auch luziden Bandes inhaltlich weiterhelfen, auch wenn dieser Appell ans Spezialistentum komisch klingt. Im II. abschließenden Teil seines Buches versucht Dahmer auf die Gegenwart einzugehen. Dabei beginnt er mit einer überraschenden Pointe — mit einem Text aus seinem Studium, in dem er 1960 die Potentiale von Hegel und Marx freizulegen suchte. Ja, die klassische deutsche Philosophie und ihre Anwendungen vor allem durch die „Frankfurter“ können auch heute noch helfen. Dann bezieht er sich auf zwei zeitgenössische politische Strömungen, die sich heute als Bedrohungen der westlichen Welt auf der Nordhalbkugel darstellen, auf die Entwicklung einer rechtsextremen Szene und die Kampfgruppen des islamistischen Fundamentalismus. Die kämpferischen Rechtsextremen bauen auf dem antisemitischen Dispositiv auf, und richten ihr Ressentiment gewalttäiig gegen Sündenbock-Gruppen. Da nach der Shoah zu wenige Juden als zu bekämpfende Feinde in Europa leben, müssen die Rechtsextremen zusätzliche Sündenbock-Gruppen finden. Sie müssen ihre Judophobie auf neue Bevölkerungsgruppen ausdehnen und finden ihre Feinde vor allem unter Muslimen. Neu-alte „massenfeindliche Massenbewegungen“ schikanieren und morden seit der „Wende“ wieder Juden und zahlenmäßig mehr Muslime. Die Rechtsextremen werden kaum wieder auf einen zivilisatorischen Weg zurückzubringen sein, aber der Kampf der Politik und des staatlichen Gewaltmonopols gegen sie muss ihre Faszination und ihre Ausbreitung in der Gesamtbevölkerung stoppen. Die Ausbreitung von islamistischen Kampfgruppen analysiert Dahmer vor dem Hintergrund des verheerenden Nord-SüdKonflikts. Auf der Südhalbkugel grassieren überwiegend Armut und soziales Elend und die Interventionen des „freien“ Westens vor allem in der „Islamischen Welt“ haben dieses Elend zweifellos erhöht. Die Milliarden Muslime befinden sich in einer verzweifelten Lage; traumatisiert von permanenten Kriegen, ausgebeutet von ausländischen und einheimischen „Eliten“ (Dieses Wort geht einem für diese Gewalt-Cliquen nur schwer über die Lippen!), der Hilfe der Sowjetunion weitgehend (Syrien!) verlustig gegangen, können sie keine produktive Entwicklungsstrategie mehr finden. Kein Wunder, dass Minderheiten von jungen Menschen, meist Manner, ihren Ausweg in einem djihadistischen Gewaltausbruch suchen, der aber den Machthabern der Nordhalbkugel zur Legitimation ihrer Kriege dient, und dass Millionen von Menschen vor allem aus dem Nahen Osten nach Europa zu fliehen versuchen. Wie kann es zu dem Bewusstsein kommen, dass der Süden Friedensschlüsse und Wiederaufbau braucht, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg? Zuletzt muss angemerkt werden, dass die zitierten Soziologen und Psychologen vielfach über das Verhältnis der Menschen zur Natur philosophiert haben, aber offensichtlich angesichts der Größe der von Menschen verursachten Massenverbrechen die ökologische Frage noch nicht gesehen haben. Lore Reich Rubin: Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich. Aus dem Englischen von Lilith-Isa Samer. Giefsen: Psychosozial- Verlag 2019, 253 Seiten. Der Titel des Buches ist treffend: Die Autobiographie Lore Reich Rubins bietet historisch wenig Neues, aber sie versucht ihren Blick auf die „chaotische Welt“ ihrer Jugend zu richten. Sie berichtet aus einer schwierigen „Patchwork-Familie“ in einer finsteren Zeit. Diese Lebensform war damals alles andere als üblich, aber das allein war ohnehin nicht die zentrale Schwierigkeit. Die Familien Reich hatten sich als Pioniere der individuellen und gesellschaftlichen Veränderung gegen die totalitären, aggressiven und gewalttätigen Tendenzen der 1930er und 1940er Jahre zu stellen, was ohne negative Auswirkungen auf die Leben der einzelnen Familienmitglieder nicht zu haben war. Lore Reich Rubin zeigt, welche Auswirkungen das Engagement ihrer Eltern gegen die Zeittendenzen auf ihr Leben als Tochter hatte, und beschreibt, in welchen unmittelbaren persönlichen Beziehungen sie aufzuwachsen hatte. Das Eine sind die Innovationen, Leistungen und Niederlagen von Pionieren, das Andere sind die Auswirkungen ihres Tuns auf ihr persönliches Umfeld. Lore Reich Rubin wurde 1928 geboren, bereits 1929 gingen Annie und Wilhelm Reich vier Monate auf „Moskaufahrt“. Sie Dezember 2020 21