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mussten das Vater- oder Mutterland der Revolution erkunden und die beiden Töchter blieben mit einem Kindermädchen in Wien. Als Treppenwitz der Geschichte ließ das Kindermädchen Mitzi in dieser Zeit die beiden Mädchen insgeheim taufen, um ihnen den Weg in die Hölle zu ersparen. Anfang der 1930er Jahre wurde ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung, nach Berlin, übersiedelt. Die Eltern warfen sich ins Geschehen und die Kinder wurden in eine kommunistische Kinderkommune im Umland von Berlin abgeschoben, selbstverständlich wurde das mit dem Argument der Bewahrung der Töchter vor dem Ödipuskomplex beschönigt. Lore Reich verstand, dass besonders der Vater „die Kinder loswerden“ wollte, und begann das Essen zu verweigern, was eine Rachitis auslöste. Die Mutter Annie Reich holte dann die Töchter wieder zur Familie und Lore war stolz auf ihre kommunistischen und psychoanalytischen Eltern. Wilhelm Reich war aktiv und voller Leben und Wut. Die Mutter war mit den Töchtern „angebunden“ und depressiv. Um die Beziehung der Eltern stand es immer schlechter. Die Erinnerungen der Tochter an das Beziehungsleben der Eltern machen nachdenklich: Der für die Gleichberechtigung der Frau und die Befreiung der Sexualität arbeitende Wilhelm Reich bestand auf der Teilung der gemeinsamen Haushaltskosten. Da er mehr verdiente, konnte er sich das Luxusgut Auto damals leisten, während seine Frau mitten im Aufbau ihrer psychoanalytischen Karriere neben der halben Finanzierung des gemeinsamen Haushaltes kaum mehr Geld hatte. Angesichts der fehlenden Verhütungsmittel wurde der Schwangerschaftsabbruch vielfach als solches geschen: Annie Reich soll sieben gehabt haben! Es soll aber nicht vergessen werden, dass Wilhelm Reich im Stress des Abwehrkampfes gegen den Faschisierungsprozess stand: Nach Lore bekam er einen roten Hautausschlag. Mit dem Machtantritt der Nazis wurde alles anders: Wilhelm Reich floh nach Dänemark, Annie Reich als Frau des psychoanalytischen Dissidenten konnte nicht nach Wien zurückkehren, da sie von Anna Freud verhindert wurde. Daher ging die Mutter nach Prag, um in der dortigen kleinen psychoanalytischen Community wahrscheinlich bevorzugt für die Deutschsprachigen eine Praxis aufzubauen. Die Töchter Fva und Lore wurden im Februar 1933 allein mit dem Zug zu den Großeltern mütterlicherseits nach Wien geschickt. Annies Vater Alfred Pink war Kakaoimporteur und hatte Platz für die Mädchen. Lore erinnert im Haushalt der Großeltern wunderbar zum Baby regrediert zu sein. Da die größere Tochter Eva zur Kinderanalyse musste und es den Großeltern zu viel geworden sein dürfte, wurden die beiden Mädchen in die Aufbewahrungsstätte für KinderanalysandInnen gesteckt. Es handelte sich um die „Kinderpension“ von Grete Fried in der Köstlergasse 2 am Naschmarkt. Dort lernte Lore den Sohn Sergej Eisensteins und den Enkel Leo Trotzkis, Sewa Wolkow, kennen. Lore litt unter der Kälte dieser Aufbewahrungsanstalt, die vor allem von Grete Fried repräsentiert wurde. Aber zum Glück fand sie in der Montessorischule einen guten Ausgleich, die legendäre Emma (Nuschi) Plank ging auf das verlassene Kind ein. Ich habe über das Heim Fried schon gearbeitet, da Hilde Federn dort nach dem Februar 1934 als Kindergärtnerin gearbeitet hat und die beiden Mädchen Eva und Lore immer zu den Analysen bei Anna Freud und Berta Bornstein gebracht und wieder abgeholt hat, nach den Analysestunden waren die beiden oft durcheinander.' Nach Lore Reich Rubin wurden die Mädchen von den Psychoanalytikerinnen vor allem über ihren Vater ausgehorcht und Anna Freud und Berta Bornstein versuchten ihnen zu vermitteln, dass ihr Vater „verrückt“ 22 _ ZWISCHENWELT wäre. Selbstverständlich ist Missbrauch auch in der Psychoanalyse ein Thema. Im Sommer 1934 holte Wilhelm Reich die Madchen zu sich nach Danemark, um danach mit der Fahre und dem Auto zum legendaren Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) nach Luzern zu fahren. Dort lebten sie im Zelt am Campingplatz, was den Madchen gut gefiel, aber von den Wiener PsychoanalytikerInnen höhnisch belächelt wurde. In Luzern erfuhr Wilhelm Reich, dass ihn die deutsche Vereinigung bereits ausgeschlossen hatte, und Anna Freud nutzte den Luzerner Kongress als Bühne für den Kampf gegen den Dissidenten Reich. Nach diesem Abenteuer ging es für Eva und Lore wieder zurück ins Kinderheim Fried, sie wurden wieder „nach Sibirien verbannt“. Die Depression von Lore wuchs und sie hatte eine depressive Mutter zum Vorbild. Nuschi Plank hatte den Mädchen dann die Scheidung der Eltern beizubringen. Im Sommer 1935 war Annie Reich mit ihren Töchtern am Grundlsee und lernte dort den zweiten Mann ihres Lebens kennen. 1936 bis 1938 waren die beiden Mädchen bei ihrer Mutter in Prag. Lore ging auf eine deutsche Schule und spielte sogar auf einer NS-Veranstaltung Theater. Sie konnte die paradoxe Situation der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei nicht verstehen. Und in Prag hatte sie mit dem neuen Mann der Mutter zusammen zu leben. Er bleibt in ihren Erinnerungen aber diffus: Einerseits war er ein Russe mit revolutionärer Vergangenheit, andererseits war er der Hausmann der Mutter. Er wurde mit dem Decknamen Thomas gerufen und hatte oftensichtlich einen falschen russischen Pass unter dem Namen Arnold Rubinstein. Lore verpasste ihm eine einwandfreie revolutionäre Vita: Emigration mit Lenin in Zürich, Rückreise mit dem legendären deutschen Zug mit Lenin 1917, er war ein Protegé Radeks und Sinowjews. 1919 soll er von der Komintern nach Berlin geschickt worden sein, um dort als geheimer Agent die KPD zu kontrollieren. 1926 soll er mit dem Stalinismus gebrochen haben und zur linkssozialistischen SAP übergegangen sein, in der auch Willy Brandt gewesen ist. Nach 1933 war er auch in der sozialistischen Untergrundbewegung „Neu Beginnen“ engagiert und hat in Prag für diese Organisation gearbeitet. Besonders bezüglich dieser Erinnerungen an einen großartigen revolutionären Russen mit einer hausmännischen Tarnung wäre eine historische Hinterfragung hilfreich gewesen. Der „Genosse Thomas“ war nämlich der Leiter des geheimen „Westeuropäischen Sekretariats (WES)“ der Komintern in Berlin, versuchte also den „revolutionären Prozess“ in Mittel- und Westeuropa im Interesse der Bolschewiki voranzubringen, und hieß Jakub Reich (!). Im Stalinisierungsprozess löste sich Jakub Reich aus der Komintern, was nicht einfach gewesen sein kann, da das als Verrat begriffen wurde und er damit von der Ermordung bedroht war.” „Ihomas“ gelang es offensichtlich, mit Erfolg unterzutauchen und einen Identtätswechsel vorzunehmen, aber seinen Komintern-Kampfnamen behielt er im Verwandtschafts- und Freundeskreis. Spätestens 1938 wurden Ausreisepläne nach den USA gewälzt, wobei selbstverständlich der „Revolutionär“ Thomas zum Problem wurde, dem dann von einer resoluten amerikanischen Analytikerin aus der US-Botschaft ein Visum besorgt werden konnte. Wilhelm Reich wird von seiner Tochter eine Sorglosigkeit bezüglich der Emigration nachgesagt. Die bürokratischen Erfordernisse der Auswanderung wurden als „demütigend“ erlebt, aber die Emigration gelang vergleichsweise problemlos. Die Ankunft in New York war hart, Annie Reich hatte sich eine Praxis aufzubauen, was in der amerikanischen psychoanalytischen Bewegung schwer war,