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da diese Konkurrenz fürchtete und sehr auf Anna Freud konzentriert war. Annie Reich hatte sich gleichsam an Anna Freuds Ich-Psychologie „überanzupassen“ und gleichzeitig wurde sie von den amerikanischen PsychoanalytikerInnen als Exfrau von Wilhelm Reich schief angeschaut. Lore überliefert eine besondere Anspannung ihrer Mutter, die zu Bluthochdruck und langfristig zu Schlaganfällen führte. Thomas führte den Haushalt penibel und schrieb immer an einer russischen Geschichte, die nie veröffentlicht wurde. Außerdem hatte er große Angst vor den Mordanschlägen des russischen Geheimdienstes, dieser räumte nicht nur Trotzki, sondern viele kommunistische Dissidenten auch außerhalb der Sowjetunion aus dem Weg. Im Herbst 1939 kam auch Wilhelm Reich in die USA und soll von seinen Anhängern gut gelebt haben. Im Krieg wurde er sechs Wochen vom FBI auf Ellis Island interniert, er glaubte an eine Intrige der PsychoanalytikerInnen. Aber laut Dokumenten des FBI wurde Wilhelm Reich mit einem Kommunisten Namens Reich verwechselt und daher wieder entlassen. Lore war in der neuen Umgebung mit der unbekannten Sprache einsam. Aber dann wurde die trotzkistische Szene zu ihrer neuen Heimat. Sie fand Freunde in der Socialist Workers Party (SWP), selbstverstandlich in einer ihrer Fraktionen. Die beiden zentralen Fraktionen in der SWP wurden nach ihren „Führern“ genannt, diese waren die intellektuellen Shachtmaniten und die Cannoniten, die Mitglieder aus der Arbeiterklasse hatten. Lore kam zu den Cannoniten, versuchte Propagandaarbeit unter ArbeiterInnen. Die Cannoniten stellten sich aber gegen eine Kriegsbeteiligung der USA, sie hielten den Zweiten Weltkrieg ebenso für einen imperialistischen Krieg wie den Ersten und verstanden ihn nicht als antifaschistischen Krieg. Für den europäischen Flüchtling Lore war diese Position zwar unverständlich, aber sie sah darüber hinweg, die „mütterliche“ Gruppe war wohl wichtiger gewesen. 1945 infiltrierte die Trotzkistin Lore die „American Youth for Democracy (AYD)“, eine kommunistische Vorfeldorganisation, aber „natürlich“ flog sie auf. Ein Parteigericht der AYD schloss sie aus, aber noch wichtiger war die Bannung Lores durch Mitglieder. In dogmatischen Organisationen wird der Kontakt zu „Verrätern“ beinahe automatisch abgebrochen. Das musste zur Intensivierung des Gemeinschaftslebens unter den Cannoniten führen und siehe da, Lore lernt in dieser Fraktion ihren Mann Julie (Julius) Rubin kennen; 1947 wird geheiratet. Das junge Paar begann an der SWP zu zweifeln, sie betrachteten die SWP bald als kleine Sekte, die ihren Lebenszweck fast ausschließlich in der Bekämpfung der Mark Siegelberg „Willkommen in Nazideutschland“ amerikanischen KP fand. Die KPUSA wird als große Organisation erinnert, die es verstand, den großen Madison Square Garden mit Publikum zu füllen. Die Entfernung von der SWP wurde selbstverständlich auch sanktioniert, ihre Mitglieder brachen den Kontakt mit dem jungen Paar ab. Die jungen Menschen hatten nun einander und gingen völlig im Studium auf. Die Geschichteund Psychologiestudentin Lore wurde später Psychoanalytikerin. Das tragische Ende ihres Vaters Wilhelm Reich in einer Gefängniszelle berichtet Lore nüchtern, aber ihre Schilderung seines Begräbnisses ist eindrucksvoll. Lore Reich Rubin überwand sich, sie hatte kein gutes Verhältnis zu ihrem Vater im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Eva, und ging auf das Begräbnis im Orgonon. Dabei hatten die Familienmitglieder nur eine Nebenrolle zu spielen, während die Anhänger Reichs ihren „Messias“, ihren Kultführer, zur letzten Ruhe betteten. Nach dem Tod Wilhelm Reichs sollen sich die Mitglieder der „Patchwork-Familie“ wieder oder neu gefunden haben. Der Pionier Wilhelm Reich, der in der sozialistischen Massenkultur Europas vor 1933 entstehen und wirken konnte, musste in den USA quasi verkümmern, weil es dort diese Massenkultur so nicht gab — im Übrigen in Europa nach 1945 auch nicht mehr — ihm also nur mehr die Rolle des Sektenführers übrig blieb. Lore Reich Rubin zeigt die Mühsal des Pionierlebens und seine Auswirkungen auf die Familie eindrucksvoll, sie verarbeitet ihre Erinnerungen, oft wünschte ich, sie hätte historisch mehr recherchiert, aber der Versuch der Bearbeitung ihrer Traumata bleibt wichtig. Sie hält die Bearbeitung des Verhältnisses zu den Eltern für eine wichtige Voraussetzung zum Erwachsenwerden. Die Eltern sollen „als Menschen mit guten und schlechten Seiten“ gesehen werden und sie sollten als „die Menschen, die sie sind“ (Lore Reich Rubin), gewürdigt werden können. Ist das Schicksal der Menschen vollständig zu entschlüsseln? Keine leichte Aufgabe für „Kinder“ von außergewöhnlichen Menschen. Anmerkungen 1 Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des Konzentrationslagers, Band 1, Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 207-220. 2 Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Frankfurt am Main: Fischer’Taschenbuch Verlag 2000, S. 120. (https://de.wikipedia. org/wiki/Jakob_Reich) Vorbemerkung Mark Siegelberg (1895 — 1986) ist bis heute ein immer noch unterschätzter und ungelesener Exilautor. Seine Biografie und seine Werke verdienen jedoch Aufmerksamkeit, weil sie epochale zeitgeschichtliche Zusammenhänge exemplarisch widerspiegeln. Siegelberg bildete den Eintrag Nummer 139 der 151 Namen umfassenden Liste von Prominenten, die die unmittelbar nach dem „Anschluss“ zügig aufgebaute Wiener Gestapo-Stelle am 1. April 1938 nach Dachau deportieren ließ. Siegelberg war sowohl als Jude als auch als politischer Journalist stark exponiert. Seit den frühen Zwanziger Jahren hatte er sich in der nationalen Presseszene einen Namen gemacht, zumal er fürauflagenstarken Organe der linksliberalen Boulevardpresse wie etwa Die Stunde geschrieben hatte. Dieses Engagement kostete ihn ein Jahr „Schutzhaft“ in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Seine Frau Amalie erwirkte durch Vorlage zweier Schifftickets nach China Dezember 2020 23