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als Nachweis für die Ausreisebereitschaft seine Entlassung aus dem KZ, die am 22. April 1939 erfolgte. Zurück in Wien galt es nur noch die letzten Reisevorbereitungen zu treffen, um zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Flucht aus dem Dritten Reich anzutreten. Die Exilroute führte von Wien über Triest nach Shanghai und zwei Jahre später (Dezember 1941) von dort weiter nach Australien. In Melbourne hielten sich die Siegelbergs 27 Jahre auf und kehrten erst 1968 nach Österreich zurück. Im dokumentarischen Roman Schutzhaftjude Nr. 13877 verarbeitete Siegelberg seinen KZ-Aufenthalt. Mit der eigenen Häftlingskategorie und -nummer betitelt, verrät der Band von vornherein seinen autobiografischen Charakter. Die Figur des jüdischen Anwalts und „Schutzhäftlings“ Paul steht stellvertretend für den Autor selbst. Wien, Dachau und Buchenwald sind die „Etappen“ (so lauten die Kapitelüberschriften), die den Band gliedern. Gewalt, Willkür, Krankheit, Hunger und Folter bilden dessen Leitmotive. Aus der traumatischen Entrechtungserfahrung entsteht ein sachliches Narrativ, das detailreiche Einblicke in die Frühphase des KZ-Systems gewährt. Die Momentaufnahme des Lagerlebens vermag heutige Leser teilweise zu irritieren, denn sie stimmt nur bedingt mit dem medial dominierenden Bild von Massenvernichtungsanstalten (vor allem Auschwitz-Birkenau) überein, das sich ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt hat. Der markanteste Unterschied liegt gerade in der Entlassungsoption, auf die Häftlinge und ihre Angehörigen zu diesem Zeitpunkt noch eine Hoffnung hegen konnten. Mit der Figur von Pauls Lebensgefährtin Maria setzt der Band den Frauen ein Denkmal, die trotz aller Hindernisse keine Mühe scheuten, ihre jüdischen Partner freizubekommen. Schutzhaftjude Nr. 13877 ist in vielerlei Hinsicht ein Unikum. 1940 erschienen, ist er einerseits der allererste veröffentlichte Erlebnisbericht über den Prominententransport; anderseits stellt er eins der wenigsten eigenständigen Werke in deutscher Sprache dar, die im Shanghaier Exil zum Druck gelangten und so das engagierte Kulturleben der Exilierten am asiatischen Pazifik (als Pendant zum kalifornischen) dokumentieren. Die chinesische Großstadt nahm aufgrund ihres Status als freier Hafen in der letzten Vorkriegsphase rund 20.000 deutschsprachig-jüdische und andere Flüchtlinge ohne aufwendige Formalitäten auf- und dies, obwohl sich das durch den Bürgerkrieg zerrissene China bereits im Kampf gegen Japan befand, dessen Streitkräfte seit 1937 die Stadt belagerten. Trotz der Militarisierung verfügte Shanghai über eine rege Kultur- und Presselandschaft in westlichen Sprachen, an die zugewanderte Intellektuelle sofort Anschluss fanden. So konnte sich Siegelberg etwa bei Zeitungen wie der Shanghai Jewish Chronicle und dem 8-Uhr-Abendblatt weiterhin publizistisch betätigen. Zugleich machte er sein Debüt als Dramatiker. Aus der Zusammenarbeit mit dem ebenfalls aus Wien stammenden Hans Schubert (1905 — 1965) entstanden zwei brisante Zeitdramen, die 1940/41 in Shanghai ihre Premiere feierten: Die Masken fallen über die sich anbahnende Judenverfolgung im „angeschlossenen“ Österreich und Fremde Erde zum Exilantendasein in Fernost. Der Ausbruch des Pazifikkriegs nach dem Angriff auf Pearl Harbor (7. Dezember 1941) markierte eine tiefe Zäsur. Die internationale Zone Shanghais wurden durch die Japaner aufgelöst und Evakuierungen von Ausländern in großem Umfang vorgenommen. Siegelberg, der von den turbulenten Ereignissen persönlich betroffen war, hielt in seinem Shanghai-Stück Das zweite Gesicht den weltpolitischen Umbruch fest. In Melbourne musste er sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. 24 ZWISCHENWELT Erst 1954 fand er zum Journalismus zurück, als er die Zeitschrift Neue Welt gründete, die sich als Informationsplattform für die Belange der deutschsprachigen Minderheit etablierte. In deren Spalten veröffentlichte er seinen zweiten zeithistorischen Roman Ein Mann namens Brandt, dessen dystopische Handlung um die Figur eines KZ-Überlebenden kreist. Eine Neuausgabe der beiden Romane ist in Vorbereitung und erscheint 2021 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft. Die nachstehende Leseprobe aus Schutzhaftjude Nr. 13877, die die Abwicklung des Prominententransports zum Gegenstand hat, lädt zum Nachholen einer durch die Umstände des Exils verhinderten Lektüre ein. (Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Nachlassverwalters Dr. Wilfried Seywald, Wien.) Tomas Sommadossi Literatur Hans Schubert und Mark Siegelberg: Die Masken fallen; Fremde Erde. Zwei Dramen aus der Emigration nach Shanghai 1939-1947. Hg. von Michael Philipp und Wilfried Seywald. Hamburg 1996. Mark Siegelberg: Das zweite Gesicht; The Face of Pearl Harbor. German and English Parallel Text. Hg. von Tomas Sommadossi. Miinchen 2017. Der Transport Man schrieb den 11. März 1938. Die Ereignisse überstürzten sich, in wenigen Stunden verschwand eine in Versailles geschaffene Republik. Sie wurde plötzlich ausgelöscht, bevor man noch recht wußte, was eigentlich geschah. Nachmittag marschierten noch junge Männer mit dem Abzeichen des Vaterlandes durch die Straßen der Stadt und abends gab es niemanden mehr, der den Mut gehabt hätte, sich offen zu seinem noch nachmittags existenten Staat zu bekennen. Woher kamen sie alle? Alle diese Hakenkreuzträger, die man vor wenigen Stunden noch nicht geschen hatte. Plötzlich tauchten Tausende und Abertausende Fahnen mit dem Abzeichen des Dritten Reiches auf, plötzlich war die Stadt überflutet von den Feinden eines Regimes, das vor wenigen Stunden wenigstens auf dem Papier noch eine Existenzberechtigung besaß. Wachleute, die noch vor einer kurzen Zeitspanne als Diener eines österreichischen Staates zumindest nach außen hin den Eindruck erweckten, als ob sie diesen Staat schützen wollten, trugen auf einmal und mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht recht verständlich war, ihre Hackenkreuzbinden, die wahrscheinlich schon am Vormittag in den Taschen ihrer Träger vorbereitet lagen. [...] Paul wußte, daß für ihn, den jüdischen Anwalt und Schriftsteller, der sich außerhalb seines engeren Berufskreises mutig und ohne jeden Hintergedanken zu seinem alten Staat bekannte, und der temperamentvoll die so rasch populär werdenden demagogischen Schlagworte der neuen Bewegung bekämpfte, daß für ihn wenigstens in diesem Augenblick alles verloren war. [...] Paul hatte das Gefühl, der schwersten Etappe seines Lebens entgegenzugehen und vor Ereignissen zu stehen, auf deren weiteren Gang er selbst kaum einen entscheidenden Einfluß würde nehmen können. Noch vor wenigen Stunden trug er sich mit dem Gedanken, mit seiner Maria aus jener Stadt zu flüchten, wo sie mühsam ihre Existenz und ihr kleines häusliches Glück aufgebaut haben. Auch jetzt dachte er noch an die Möglichkeit einer raschen