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Flucht, aber irgend eine lähmende Passivität packte ihn, völlig apathisch saß er an dem Arbeitstisch seines Freundes, innerlich überzeugt, daß er den weiteren Ereignissen nicht mehr entfliehen kann. Es galt jetzt bloß sich zusammenzunehmen und wenigstens vor seiner Maria die wachsende innere Angst zu verbergen. [...] Schlaflose Nächte und Tage eines unruhigen Wartens auf etwas, das mit der Zeit doch geschehen mußte, und gleichzeitig das Hoffen auf irgendein Wunder, das alles füllte das Leben der beiden in dieser Zeit der Unrast aus. Diese völlige Passivität, diese Hilflosigkeit waren so zermürbend, daß Paul es bereits als Erlösung empfand, als nach wenigen Tagen in den Abendstunden Männer in Zivil mit Binden und Abzeichen bei seiner Wohnung anklopften und ihn höflich baten, sie auf die Polizei zu einer, wie sie sagten, an sich unwichtigen Auskunft zu begleiten. [...] Aber als er in dem grünen Polizeiwagen saß, umgeben von fremden, ihn völlig desinteressiert anblickenden Gesichtern, versuchte er sich rasch Rechenschaft über das Kommende abzugeben. Nun war er in den Händen jener, von denen er kaum Mitleid zu erwarten hatte. Er fuhr einem Schicksal entgegen, dem er nicht mehr entrinnen konnte. |...] Mit dreiundachtzig Mann zusammen lag Paul in einem Raum, der kaum für die Hälfte bestimmt war. Strohsack lag neben Strohsack. Man mußte ordentlich zusammenrücken, um Platz zum Schlafen zu haben. Und ebenso wie hier lagen auch in den anderen Räumen des riesigen Gefangenenhauses Tausende und Abertausende Menschen, die in diesen denkwürdigen Märztagen ohne viele Formalitäten auf Grund von rasch zusammengestellten Listen, auf bloße anonyme Anzeigen hin, buchstäblich zusammengefangen und hinter versperrte Gittertüren gesetzt wurden. In den Tagen dieses großen Umbruches war es eine höchst einfache Sache, seiner Freiheit plötzlich beraubt zu werden. Es genügte, wenn man in einer etwas gehobenen Position saß, wenn man angeschener Anwalt war, wenn man als Journalist bisher sein Brot verdiente, jawenn man nichts anderes als einfach Angehöriger der unglücklichen jüdischen Rasse war. Die Grundgesetze des Dritten Reiches begannen allmählich ihre strenge Anwendung zu finden. Die Gefangenen wurden bereits in den ersten Tagen nach ihrer Konfession gesondert eingeteilt und die Juden saßen schon in eigenen Räumen. [...] Männer, die noch vor wenigen Tagen als Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute, Fabrikanten ein bürgerliches Leben führten, lagen und saßen herum, immer wieder nur die einzige Frage wiederkauend, die Frage nach der Dauer dieses ungewohnten Zustandes. Aber gerade auf diese Frage konnte niemand eine klare, befriedigende Antwort geben. Man tröstete sich mit dem Gedanken, daß diese Freiheitsberaubung an Tausenden nur vorübergehend sein konnte, man hielt es für völlig undenkbar, daß unschuldige Menschen, nur weil sie sich zum früheren Staat bekannten, oder einfach weil sie Juden waren, hier als Schwerverbrecher eingesperrt und als solche behandelt werden sollten. Man glaubte vielfach an ein Mißverständnis, das sich bald aufklären würde. Man beging wie so oft den Denkfehler, die Tatsachen logisch zu analysieren, ohne zu überlegen, daß eine nationalsozialistische Revolution eben andere Gesetze des Handelns kennt und daß ihre Träger ohne die geringste Hemmung jedwedes Mittel zu akzeptieren bereit sind, das nach ihrer Auffassung der Erreichung ihrer Ziele zu dienen vermag. Es war völlig absurd — darauf kam Paul allerdings erst später —, den Maßstab des menschlichen Tuns dort anzulegen, wo für das Gefühl der Menschlichkeit kein Raum mehr bestand. Mit der Zeit mußte Paul an sich selbst erfahren, daf diesem System jede Regung des Mitleids dann vollkommen fremd war, wenn es galt, seine wirklichen oder auch nur scheinbaren Gegner zu vernichten. Vielleicht lag darin auch die Stärke dieses Systems, das im Handeln jeden Kompromißgedanken völlig ausschaltete. [...] Tage, ausgefüllt mit dumpfem Brüten und sinnlosem Herumpendeln aus einer Ecke in die andere, vergehen furchtbar langsam. Man hofft und wartet. [...] In solchen Tagen ersehnte Paul irgend ein Ereignis, das diesem Zustand des Wartens ein Ende setzen sollte. Er hatte zwar irgendwie instinktmäßig das Gefühl, daß das Ereignis, auf das er hier wartete, nichts Gutes für ihn bedeuten würde. Er schrak innerlich zusammen vor dem Gedanken, daß er aus seinem Gefängnis in ein Konzentrationslager kommen könnte, aber, wenn es schon unvermeidbar war, so sollte es bald geschehen. Seine Schicksalsgenossen in der Zelle, denen er den Gedanken an eine mögliche Überführung in ein Lager anvertraute, lachten ihn freilich aus und schüttelten ungläubig die Köpfe. Das wirkte jedoch auf ihn wenig beruhigend. Er wollte es sich nicht verhehlen, daß die Macht, in deren Händen er sich jetzt befand, völlig unbarmherzig war. Er begann sich mit dem Gedanken abzufinden, daß ein Hoffen auf Mitleid, ja auf bloße Gerechtigkeit hier durchaus nicht am Platze war. Vielleicht wollte er sich innerlich für die schwere Zukunft vorbereiten. Er bemühte sich, dieses zermürbende, ununterbrochene Denken an das ungewisse Etwas, das ihn bedrohte, soweit es ging, auszuschalten und sich abzulenken, doch gelang dies nur für ganz kurze Augenblicke. Das klar denkende Gehirn, das keine Ablenkung vertrug, war hier im Gefängnis ein schwerer Feind und stellte an die Nerven des Menschen ungeheuere Anforderungen. So betrachtete Paul es geradezu als eine Erlösung, als eines Abends nach etwa drei Wochen dieses dumpfen Gefangenendaseins er und noch einige seiner Zellengenossen in die Büroräume des Gefängnisses gebracht wurden, wo ein recht lebhaftes Treiben begann. Namen wurden rasch registriert, man folgte Paul ebenso wie seinen Mitgenossen den Hut, die Krawatte, Taschenmesser und andere Gegenstände aus, die bei der Einlieferung abgenommen worden waren. Paul zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß es sich hier nicht etwa um eine Entlassungsprozedur handelte. Es stand etwas anderes bevor. Eine größere Gruppe wurde hier in einem streng abgesonderten, vergitterten Raum unter der Aufsicht einer auffallend großen Anzahl von Wachebeamten zusammengestellt, eine Gruppe von etwa 150 Mann, Arier und Juden gemischt, die jetzt in eine Anzahl von Polizeiwagen unsanft untergebracht wurden. „Wohin geht die Fahrt?“, fragten sie sich alle. Innerlich fürchteten sie — diesen Gedanken wollten sie laut nicht aussprechen —, daß sie vielleicht für ein Konzentrationslager bestimmt seien. Alle möglichen Vermutungen, nur nicht diese, wurden aufgeworfen und diskutiert. Als die Wagen schon durch die nassen Straßen — es regnete in Strömen - rollten, blickte man erwartungsvoll zu den kleinen vergitterten Fensterchen hinaus, bemüht, irgendwie zu erraten, wohin diese Fahrt führte. Da kam man in eine Straße, wo ein anderes Gefängnis lag. Vielleicht also eine bloße Überführung in eine neue Zelle. Aber der Wagen rollte weiter. Dezember 2020 25