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Man kommt in die Nähe des Landesgerichtes. [...] Aber der Wagen blieb auch hier nicht stehen. Er rollt unentwegt weiter und nun wird es bald völlig klar, wohin diese Fahrt in den Abendstunden geht. Man nähert sich einem Bahnhof, von wo die Züge nach Deutschland fahren. Also doch! Für Vermutungen ist kein Platz mehr vorhanden. Hier auf dem Bahnhof hatte man nicht mehr Zeit, die Dinge zu überlegen, die Gedanken irgendwie zu ordnen und sich für das Weitere einigermaßen vorzubereiten. Hier spielten sich die Ereignisse mit einer geradezu bewunderungswürdigen preußischen Genauigkeit, Intensität und Geschwindigkeit ab. Die österreichische Gemütlichkeit war zu Ende. Man stieg noch gemächlich aus dem Polizeiwagen aus, aber dann mußte man schon laufen, laufen zwischen zwei Reihen von SS-Männern, die Stahlhelme und schwerste Bewaffnung trugen und die schon durch ihr Gehabe nunmehr deutlich machten, was es bedeutete, vom Schicksal bestimmt zu sein, in ein deutsches Konzentrationslager zu fahren. Man mußte schr geschickt sein, um den Kolbenschlägen auszuweichen, die hier in unmittelbarer Aufeinanderfolge auf Einen niederprasselten. Man mußte mit geradezu akrobatischer Geschwindigkeit die Stufen des Wagens hinaufklettern, um höchst unsanften Tritten von rückwärts zu entgehen. Man mußte schr rasch seinen Platz in dem Wagenabteil wählen und besetzen, um eine schmerzvolle Aufmunterung seitens der Begleitmannschaft überflüssig zu machen. Und dann saß man eng gedrängt nebeneinander in einem normalen Zugsabteil und ahnte und wußte nun, daß in diesem Augenblick ein Grauen beginnen sollte, über dessen Inhalt und Umfang man sich allerdings noch keine Klarheit ableben konnte. Eine Fahrt von Wien nach München mit dem Abendschnellzug dauert normalerweise 10 bis 12 Stunden. Auch diese unglückseligen Katharina Riese Nach 1945. Zwei Töchter Häftlinge, die an einem der ersten Apriltage des Jahres des österreichischen Umbruches in den Abendstunden ihre Reise nach Dachau antraten, fuhren nicht viel länger. Wie unendlich lang aber eine Nacht werden kann, das hat Paul in diesen schwersten Stunden seines Lebens mit einer Deutlichkeit erfahren, die kaum noch zu überbieten war. Man mußte vor allem ruhig sitzen, man durfte sich so gut wie gar nicht bewegen. Eine besondere Erfindung war es, die so Reisenden zu veranlassen, ununterbrochen in das Licht der elektrischen Lampe, die oben am Plafond angebracht war, zu schauen und wehe, wenn man während dieses ununterbrochenen Hinstarrens eine Kunstpause einschaltete, oder wenn man gar für Augenblicke die Augen schloß. Kräftige Kolbenschläge sorgten dafür, daß diese eigenartige gymnastische Übung nicht unterbrochen wurde. [...] Das ununterbrochene Blicken in das grelle Lampenlicht wirkte immer ermüdender. Paul unterbrach seine Gedanken und zählte wieder einmal bis tausend. Aber die Minuten vergingen nur langsam. [...] Die Monotonie dieser Fahrt wird plötzlich durch zwei Schüsse gestört. Da hat in dem Nebenabteil ein Mann, der nicht mehr die Nerven aufbrachte durchzuhalten, den Versuch gemacht, die Fenster aufzureißen. Zwei Schüsse der bewachenden SS-Männer machten rasche Arbeit. Dem Mann, dem die Nerven durchgegangen waren, blieb auf diese Weise ein Dachau mit allen seinen Qualen erspart. Zwischenfälle dieser Art gab es nicht allein in dem Wagen, in welchem Paul fuhr. So war es übrigens nicht verwunderlich, wenn in Dachau die Zahl der Angekommenen nicht restlos mit jener Zahl übereinstimmte, die beim Einsteigen in Wien registriert wurde. Aber welche Rolle spielte in diesen Tagen ein menschliches Leben? Ein Schriftsteller (...) willnicht das Geheimnis, das erträgt er nicht. Er will entdecken, das ist was ein Schriftsteller tut. Aber er will auch sagen, erzählen, was er gesehen hat und ja, ich denke, es ist für Menschen in der Nähe von einem Schriftsteller oft gefährlich. (Connie Palmen) Die Bücher und die Mütter könnten nicht verschiedener sein, aber die Töchter haben etwas gemeinsam, nämlich den Willen, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Sie sind 2012 und 2018 erschienen und damit ist die Latenzzeit ihrer Besprechung als Neuerscheinung schon lange vorbei. Das Besondere? Was rechtfertigt den Versuch, diese beiden Titel sozusagen in Evidenz zu halten? Die Schilderung der seelischen Knochenarbeit beim „Ausgraben“ der eigenen familiären Vergangenheit? Na gut, kann man sagen, das ist a) das Wesen von Literatur und b) gibt es eine lange Liste von von Nazi-Kindern und/oder Verwandten geschriebenen Büchern. Also, was macht diese beiden Titel für mich 26 _ ZWISCHENWELT so besonders? Es geht hier um Frauenbeziehungen, um -auch ohne Nazi-Vergangenheit hochkomplexe — Mutter-Tochter-Beziehungen in einer patriarchalischen Gesellschaft. Und es sind zwei „glückliche Fälle“, die Mut machen. Frau kann diese beiden Bücher als frohe Botschaft lesen, daß Familie nicht ident mit Schicksal sein muß. Daß man sich, egal in welchem Milieu und mit welchen Eltern aufgewachsen, als erwachsene Frau immer noch entscheiden kann, ob man sich heilen oder weiter (ab)töten will, um den „Haussegen“ nicht zu gefährden. Leicht ist das nicht. Das Erinnerungsbuch „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind“ und der Roman „Wie kommt der Krieg ins Kind“ nehmen uns bei der Hand und lassen uns nachvollziehen, was es heißt, mit innerfamiliären Denk- und/oder Publikationsverboten zu kämpfen. Und, insofern es um Dokumentationen, also Non-Fiktion, geht, stellt sich die Frage nach der Legitimität von „Verrat“. Die Aufdeckerinnen der familiären Vergangenheit, hier die ihrer Mütter, kommen