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nicht umhin, die Geschichte ihrer Mütter zu „verraten“. Indem die Autorinnen auf ihrem Recht, zu recherchieren, zu denken, zu merken und zu fragen: „Wer war/bin ich?“ und „Wer waren/sind meine Eltern/Großeltern?“ beharrten, riefen sie in sich und in ihren Familien gefährliche Geister wach. Mit diesen mussten sie dann gi auch leben (können). Zurück zu 1945, zur fünfundsiebzigsten Wiederkehr dieses Datums. Viel ist dazu schon publiziert worden, aber die Bewußtmachung der Spätfolgen läßt, wie ich meine, noch immer Platz für Nachbesserungen. Wie wir wissen, war der Zweite Weltkrieg kein Krieg wie die vorhergegangenen. Der Zweite Weltkrieg war nicht nur ein Krieg gegen feindliche Staaten, sondern auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die eigenen Landsleute. An sich auch wieder nicht neu, wenn wir an die Geschichte der Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten denken. Und doch ganz anders. Als Hitler per Dekret die eigene Bevölkerung in Privilegierte und Unerwünschte teilte, war die Demokratie schon abgeschafft. Die „Nürnberger Gesetze“ und die „Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden nicht mehr diskutiert. Nicht von Juristen; nicht von Ärzten. Nach 1945 blieben Menschen zurück, die entweder zur einen oder zur anderen Seite gehört hatten: die „führerlos“ gewordene Hitler-Gefolgschaft und diejenigen, die in den KZs, im Exil, in diversen Verstecken, oft als einzige ihrer Familien, den NS-Terror überlebt haben. Jede/t, die/der sich zum Dritten Reich und der Nachkriegszeit äußert, kann nicht anders, als sich zum x-ten Mal an diesen Themen abzuarbeiten und zum x-ten Mal, um mit W.G. Sebald zu sprechen, einem der Großmeister der literarischen Untersuchungen zu den Spätfolgen der NS-Diktatur, „haarscharf vorbei“ zu treffen. Wie alles so kommen konnte? Wie es gekommen ist? Wir wissen, daß alle Inhalte der NS-Ideologie keine Erfindung der Nazis waren. Ihre genuinen „Erfindungen“ waren die gewalttätigen Umsetzungen bereits vorhandener Vorurteile unter Ausschaltung der Demokratie. Und, auch das kann man ad infinitum wiederholen: Die Eben-Noch-Nazis konnten nach 1945 zum Phänomen, wie aus ihnen, in der Regel nicht von Haus aus mit kriminellen Neigungen Ausgestatteten, Verbrecher und/oder Komplizen von Verbrechern wurden, nicht viel Erhellendes beitragen. Die Zeit nach 1945: Alle verfügbaren Energien der Überlebenden wurden in den Neubeginn investiert. Opfer und Täter begegneten sich auf der Straße wie Schauspieler aus einem Stück, das nicht mehr gespielt wurde. Vor den zur Abwendung der Hungersnot eingerichteten Volksküchen standen Opfer und Täter in einer Schlange um Essen an. Und: So sehr sich die amerikanischen, französischen, englischen und russischen Besatzungsmächte in Deutschland und in Österreich auch bemühten, in den Köpfen und Herzen der gerade noch Nazi-Gewesenen eine Rückkehr zur Demokratie in die Wege zu leiten, den Kindern in den Nazi-Familien konnten sie nicht helfen zu begreifen, was es mit dem „verlorenen Krieg“ auf sich hatte. In ihrem 1989 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch „Nationalsozialismus in der zweiten Generation. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen“ versuchte die Psychoanalytikerin Anita Eckstaedt so etwas wie eine Typologie zum Thema Kindheiten in Nazi-Familien und ihre Folgen. Diese Menschen, so ihr Forschungsergebnis, zeigten in der Behandlung eine bis dahin noch nicht erforschte Spielart von „Widerstand“. Eckstaedt bezeichnete ihn mit dem Arbeitsbegriff: „Ichsynthone Objektmanipulation“ und „Die Erstellung eines Hörigkeitsverhältnisses zur narzisstischen Abwehr“. Eckstaedt fand, wie sie beschreibt, in einem für sie selbst als schmerzhaft empfundenen Prozeß Folgendes heraus: Sie war als Ärztin von ihren Klienten/Klientinnen in einer Weise manipuliert worden, wie diese einst als Kinder von ihren Eltern manipuliert worden waren. Bei aller Verschiedenheit der jeweiligen in den Analysen zur Sprache gekommenen Privatschicksalen sei es, so Eckstaedt, nach vielversprechenden, schwungvollen Anfängen zu —auch jahrelangen - Stillständen gekommen. Es stellte sich heraus, daß für dieses besondere Klientel nicht das Ende der Kur das Ziel war, sondern das Gegenteil: Die Therapeutin sollte „für immer“ für sie da sein. Diese Kunst, einen Menschen zu verführen, um ihn als seelischen „Kuli“ für sich arbeiten zu lassen, hätten die KlientInnen als Kinder von Vater und/oder Mutter „gelernt“. Die PsychoanalytikerInnen und Psychotherapeuten taten sich nach ihrer Reorganisation im deutschsprachigen Raum in der Nachkriegszeit die längste Zeit mit der Empathie mit Nazis und ihren Kindern schwer. Auch Jahrzehnte später — am Ende der Achtzigerjahre — wehte Anita Eckstadt mit ihrem Buch über NaziKinder starker Gegenwind entgegen. Aber nicht nur das. Was in den beiden, von mir zur Lektüre empfohlenen Büchern nachzulesen ist: Auch die Nazi-Kinder taten/tun sich schwer, Empathie für sich zu entwickeln! Gehörten die von Eckstaedt skizzierten Hörigkeitsverhältnisse zwischen Kindern und Eltern zu den „Selbstverständlichkeiten“ der Nachkriegsgeneration? Jedenfalls wurde nur selten, sozusagen nur von den Gesündesten, professionelle Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch genommen. Hier drängt sich die Frage auf: Warum die einen schon und die anderen nicht? Eine interessante Frage, denn sowohl Gertrud Haarer als auch Susanne Fritz haben jeweils vier Geschwister — daß diese ihren Schwestern bei der Aufarbeitung der familiären Geschichte geholfen hätten, davon ist in den beiden Büchern nichts zu lesen. Die Mütter Die Mutter von Gertrud Haarer kam 1900 als Tochter des Ehepaares Barsch in Bodenbach, Nordböhmen zur Welt. Deren Eltern betrieben eine Papierhandlung. Johanna Haarer war Lungenärztin, im Dritten Reich Bestsellerautorin, zwei Mal verheiratet. Aus der zweiten Ehe stammten fünf Kinder. 1945 wurde sie als prominente Nationalsozialistin von den Amerikanern verhaftet, wieder frei gelassen und erneut verhaftet. Ihr Lagerleben dauerte insgesamt zwei Jahre. Ingrid Charlotte Mattulke, die Mutter von Susanne Fritz, Jahrgang 1930, stammte aus einer Bäckerfamilie aus Schwersenz/Swarzedz in Polen. Fünfzehn Jahre alt, wurde sie auf der Flucht in den Westen von den Sowjets verhaftet. Ihr Name fand sich auf einer Liste der Deutschen, die sich zum deutschen Volkstum bekannten. Ihr Lagerleben dauerte vier Jahre. Dezember 2020 27