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Beide Mütter gehörten also zu den so genannten „Volksdeutschen“, die sozusagen stellvertretend für alle Deutschen nach 1945 am härtesten für die NS-Verbrechen bestraft wurden. Die Töchter Gertrud Haarer, geboren 1942 in München, Buchhändlerin, Leiterin eines Seniorenheims, Autorin, lebt in Norditalien. Susanne Fritz, geboren 1964 in Furtwangen im Schwarzwald, Schriftstellerin, Regisseurin, Musikerin, lebt in Freiburg. Eine verblüffende Parallele: In beiden Büchern finden sich geradezu idente Schilderungen, wie eine diffuse Angst aus heiterem Himmel, wie man sagt, sich ausgerechnet beim gemütlichen Lesen zuhause Bahn bricht. Beide „Töchter“ waren beim Ausbruch der PanikAttacken schon die längste Zeit von ihrer Kindheit weit entfernte Erwachsene. Gertrud Haarer: Einige Wochen vor meinem 50. Geburtstag saß ich nachmittags in meinem bequemen Lesesessel im Wohnzimmer und las. Plötzlich hörte ich laut und deutlich die Stimme meiner Mutter: „Das hast du ja prima gemacht, jetzt wirst du dein Leben lang alleine bleiben!“ Mich riss es förmlich aus dem Sessel hoch, was war das? Mein Herz klopfie wie rasend, gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als würde es von einer eisernen Hand zusammengedrückt. Im Kreis lief ich um den grofen Esstisch herum und versuchte mich zu beruhigen. Für Gertrud Haarer bedeutete dieser „Überfall“, das Hören der Stimme ihrer Mutter nicht in der Erinnerung, sondern als Simme „von außen“, den Anfang einer lang anhaltenden seelischen Krise. „Ich bekam Medikamente vorgeschrieben und abends saß ich mit meinem Kater auf dem grünen Sofa und dachte: ‚Jetzt hat es dich also auch erwischt, jetzt bist du auch beim Psychiater gelandet, alles Sträuben hat nichts genutzt.‘, Susanne Fritz: Als mich kürzlich wie aus dem Nichts im Wortsinn Heulen und Zähneklappern überkamen, eine Störung des Atems, Schüttelfrost und ein Gefühl gespenstischer Leere und Dunkelheit, lag ich gerade gemütlich bei Tee und mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa. Die Lektüre, die diese Erschütterung auslöste, wird erwähnt. Es waren drei Seiten im Roman „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Ähnlichkeiten: Von ihrem Stand und Rang in der Gesellschaft ähnelten sich die Milieus der Großeltern beider Autorinnen. Die jeweiligen Wohnorte — Nordböhmen und Posen — gehörten zu Ortschaften, in denen in der Monarchie mehrheitlich deutsch gesprochen wurde. Die Großeltern waren Gewerbetreibende. Die Großeltern Barsch hatten eine Papierhandlung, Großvater Mattulke war Bäcker. Nach 1918 änderten sie in beiden Geschäften mit den jeweiligen Staatsbürgerschaften die Firmenschilder von deutsch auftschechisch respektive polnisch; nach dem Einmarsch der Wehrmacht wieder zurück auf deutsch. Abgesehen von den politischen Machtverhältnissen war den Großeltern als Geschäftsleuten sicher an freundlichen Beziehungen zu allen Kundinnen und Kunden gelegen. Das, in den beiden Büchern auch zur Sprache kommende Privatleben der Familien, in denen „die Mütter“ aufgewachsen waren, liest sich alles andere als freundlich: Hie Alkoholkrankheit, da Gewalt gegen Kinder und Angestellte. 28 — ZWISCHENWELT Unterschiede: Aus der Sicht der Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Deutschen Nazis. Das war richtig und falsch zugleich. Am schlimmsten hatten die Nazis im Osten von Deutschland gewütet. Der Blutzoll der Roten Armee für den Sieg über die Nazis war unter allen Alliierten bekanntermaßen mit Abstand der höchste. Entsprechend groß war auch der Haß der Befreiten auf alle Deutschen. Als Revanche für das „J“ auf dem Gewand der Juden wurden nun die Deutschen mit einem „N“ gekennzeichnet. Mit solch einem „N“ war die 15-jährige Mutter von Susanne Fritz durch eine aufgebrachte Menge Spießruten gelaufen. Das Mädchen kam zuerst in ein Lager der Sowjetarmee, um anschließend als Strafgefangene bei polnischen Bauern zu arbeiten. Nach vier Jahren wurde sie entlassen. Ingrid Mattulke heiratete einen Landsmann, auch er hatte Jahre im sowjetischen Lager hinter sich. Das Paar ließ sich in Furtwangen im Schwarzwald nieder, fünf Kinder — Susanne war das vierte Kind und die erste Tochter — kamen zur Welt. Ihre Eltern hatten es als Flüchtlinge und als Evangelische in Bayern sicher nicht leicht. Fritz beschreibt ihre Mutter als linksliberal denkende SPIEGELLeserin. "Trotz der traumatischen Erfahrung als Häftling in der hochsensiblen Entwicklungsphase der Pubertät hegte sie keine revanchistischen Gefühle. Sie konnte den Haß der Russen und Polen aufdie Deutschen verstehen. Und sie empfand Dankbarkeit dafür, am Leben gelassen worden zu sein, schr zum Unterschied wie „die Deutschen“ mit ihren Polen, Russen und Juden umgegangen waren. Ihre Mutter habe sich an allen deutsch-polnischen Versöhnungsaktivitäten beteiligt; ständig Pakete geschnürt, die in die alte Heimat geschickt wurden. Als erstes Mädchen nach drei Buben hatte Susanne Fritz eine besonders innige Beziehung zu ihrer Mutter. Als ihre Tochter in die Pubertät kam, machten sich bei der Mutter die Traumen, die sie in diesem Abschnitt ihrer Entwicklung erlebt hatte, bemerkbar. Doch die Konflikte zwischen Mutter und Tochter hätten im Großen und Ganzen das übliche Maß nicht überschritten. Nach der Matura ging Susanne Fritz nach Berlin, studierte Theologie, Malerei, Iheaterwissenschaft und begann zu schreiben. Zum Eklat mit ihrer Mutter kam es nach ihrer ersten Publikation. Ihre Mutter drohte mit Selbstmord, falls sie ihre Absicht, Schreiben zum Beruf zu machen, nicht aufgäbe. Am selben Tag, als die Belege vom Verlag kamen, schickte ich meinen Eltern mein literarisches Baby zu. Schützte mich mit Blindheit und erlaubte mir, schlafwandlerisch etwas zu tun, was für mich notwendig, aber strikt verboten war? Was hätte mein Wissen um die Konsequenz bewirkt? Hätte es mich vom Schreiben abgehalten? (...) hätte ich Vorsichtsmafnahmen ergriffen wie ein Künstler in einer Diktatur? Das Ergebnis war furchtbar. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden und war nicht dazu zu überreden, aufzustehen, konnte es nicht. Mein Vater, schwerkrank ans Bett gefesselt, schaute hilflos zu. Sie werde sich töten, und unseren Vater nähme sie mit. Meine Geschwister drangen aufmich ein, etwas zu unternehmen. Auch sie verziehen mir das Buch nicht. (Zitiert aus „Fingerabdruck“, Essay, in: Lettre international 109, Sommer 2015). Auf diese Reaktion war die Tochter nicht vorbereitet, zumal der Text, um den es ging, keine Familieninterna preisgegeben hatte. Es stellte sich heraus, daß der Mutter der Inhalt des Textes egal war. Ihr Entsetzen galt dem Publizieren an sich. Die Vorstellung, daß sich ihre Tochter freiwillig einer öffentlichen Be- oder Verurteilung preisgeben wollte, versetzte sie in Panik. Unter „Öffentlichkeit“