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Sodann wird die Angst vor diesem Feindbild geschürt, um dann den Müttern mit den erlösende Tipps zur Hand zu gehen, wie sie in diesem Machtkampf mit dem „Eigensinn“ des Kindes als Siegerin hervorgehen könne. Nur die Einsicht des Kindes in seine Ohnmacht sorge für häuslichen Frieden und Harmonie und für eine gedeihliche Entwicklung des Kindes. Johanna Haarer soll, so ihre Tochter Gertrud, erst in ihrer letzten Stunde eine ideologische Kehrtwende gemacht haben. Die größte Hürde für ein Schuldeingeständnis/Bitte um Vergebung seitens der Opfer sei die damit verbundene Einsicht gewesen, daß dann „alles umsonst“ gewesen sei. Mit „alles“ meinte sie die Opfer auf Seiten der Nationalsozialisten. Den genauen Wortlaut dieses Geständnisses wollte Gertrud Haarer nicht preisgeben, was man als Komplizenschaft mit der Mutter auslegen könnte. Die Schwierigkeiten der Töchter beim Umgang mit den schriftlichen Nachlässen ihrer Mütter Susanne Fritz: Ihre Aufzeichnungen erscheinen wie Markierungen verbotener Wege: Eine Spur wird gelegt, eine Richtung angedeutet, der Gang dahin zugleich untersagt. Sie hätte ihre Tagebücher und Briefe vernichten können, doch sie bewahrte sie auf. Für wen? Einmal, vor vielen Jahren, hatte sie mir ihr Tagebuch in die Hand gedrückt, war, während ich versuchte, darin zu lesen, so nervös hinter mir auf und ab gegangen, daß ich kein Wort behielt. Ihr Erfahrungsschatz sollnicht verloren gehen, aber auch nicht gehoben werden. (...) Was war meiner Mutter wichtiger, die Markierung oder das Verbot? Die ersten Monate in sowjetischer Haft vor ihrer Zuteilung als Zwangsarbeiterin an polnische Bauern waren im Tagebuch ausgelassen. Ihre Tochter ließ sie wissen, daß sei etwas, das nicht erzählt werden könne und nicht erzählt werden dürfe. Gertrud Haarer, ursprünglich das „schwarze Schaf“ unter ihren Geschwistern, wurde ihrer Mutter im Alter alleinige und unverzichtbare Stütze. Die Beziehung wurde immer enger. Nach und nach zog die Mutter die Tochter bei allen rechtlichen Angelegenheiten ins Vertrauen, bis die jüngste Tochter schließlich mit ihrer Mutter bis zu deren Tod zusammenlebte und das Münchner Haus, mit der Auflage, es nie zu verkaufen, erbte. Wozu sich diese, nach Krise und Therapie, dennoch entschloss, um sich in Norditalien zwei Immobilien zu kaufen. Das ehemalige „Büro“ ihrer Mutter, also den schriftlichen Nachlass plus Aktenschrank, übersiedelte sie nach Italien mit. Dort, in ihrem neuen Zuhause, in sicherer Entfernung von München, begann sie mit der systematischen Arbeit am Nachlass ihrer Mutter. Die Bücher meiner Mutter zu lesen, war die schwerste und niederdrückendste „Hausaufgabe“ für mich. Es ist nun schon einige Zeit her, daß ich sie gelesen habe, und ich habe wohlweislich die „bereinigte“, also die nach 1949 erschienene Ausgabe (...) gelesen. Ein Satz ist mir im Gedächtnis eingebrannt: „Der Wille des Kindes ist zu brechen.“ Die Tochter erkannte die Stimme ihrer Mutter in ihren Büchern nicht wieder. Sie fragte sich: Hatte sie jemals Zweifel an dem, was sie geschrieben hat? (...) Mir ist der Ton aufgefallen, den ich schwer definieren kann, eine eigenartige Mischung aus kameradschafilich betulich, dabei belehrend, ich kann ihn überhaupt nicht vertragen. So habe ich meine Mutter nie kennengelernt und ich würde sagen, er entsprach ihr auch gar nicht. 30 ZWISCHENWELT Rückblickend stellt Gertrud Haarer fest, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in ihrer Therapie, „wenn ich ehrlich bin, auch der eigentliche Grund gewesen [ist], warum ich eine Therapie angefangen habe. Alleine konnte ich das nicht mehr bewältigen, jedoch nachdem ich meine Mutter ihr letztes halbes Jahr gepflegt hatte, sie in ihrem Sterben begleitet hatte, musste ich endlich etwas für mich tun. Wahrscheinlich war mir unbewusst klar, dass auch mich die Familienkrankheit eines Tages packen würde. (...) Rückblickend scheint mir allerdings, dass das Aufwachsen und die Erziehung in der Nachkriegszeit in meiner Therapie zu kurz gekommen sind (...)“. Die Originalfassung der Bücher ihrer Mutter hat Gertrud Haarer nicht gelesen, wohl aber die Abrechnung von Sigrid Chamberlain mit „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Sigrid Chamberlain, geb. 1941, Sozialpädagogin, selbst Kind von Nationalsozialisten, veröffentlichte ihre Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie zum Thema Kindererziehung 1997 unter dem Titel „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher“. Getrud Haarer: Als ich das erste Mal das Buch von Chamberlain las, war ich wie erschlagen. Ein Trommelfeuer von Argumenten, dass die Erziehungsmethoden meiner Mutter nur dazu dienten, einen nationalsozialistischen Menschen heranzubilden, war auf mich eingeprasselt. Ich spürte den großen Zorn, den Abscheu und die Verachtung, die aus dieser Arbeit spricht. In ihrer Diagnose über die Zurichtungen der Kinder zu absolutem Gehorsam, Schmerz- und Gefühlsverachtung nach den Prinzipien der faschistischen Erziehung gibt Gertrud Haarer Sigrid Chamberlain zwar recht, zweifelt aber an der durchgängigen Befolgung der von ihrer Mutter gepredigten Erziehungsmethoden: „Ja, vielleicht sind die ‚eisernen Regeln‘ doch nicht so leicht eisern durchzuhalten.“ Energisch widerspricht sie der Einschätzung des Charakters ihrer Mutter durch Chamberlain: ,,Ich teile diese Ansicht nicht, meine Mutter war kein grausamer Mensch, keine Sadistin.“ Weiters kritisiert Gertrud Haarer, daß Sigrid Chamberlain die autoritäre Sozialisation ihrer Mutter sowie die Vorläufer der nationalsozialistischen Erziehungsmethoden, wie sie seit dem 19. Jahrhundert als „schwarze Pädagogik“ Gang und Gäbe waren, in keiner Weise berücksichtigt: Und doch macht mich vieles sehr nachdenklich, was Chamberlain über frühe Kindheitserfahrungen schreibt, wie meine Mutter sie damals gut und einzig richtig fand. Manches erkenne ich eben auch an mir wieder, die Fremdheit dem eigenen Körper gegenüber zum Beispiel. Aber auch die Fremdheit der eigenen Kindheit, die Lücken in der Erinnerung und den dringenden Wunsch, sie aufzufüllen. Viele der Erwachsenen, die Sigrid Chamberlain befragt hat, spüren so etwas wie einen Sog zu früheren Kindheitsorten hin, verbunden mit einem sehr starken Wunsch, Menschen zu finden, die ihnen von der bruchstückhaft erinnerten Kindheit erzählen können. Oft ist es nämlich gar nicht möglich, den eigenen Erinnerungen zu trauen, so absurd und unvorstellbar erscheinen die erinnerten Ereignisse zu sein. Erinnerungen anderer Menschen, ‚Zeugen‘ zu finden, ist offenbar für viele dieser Kinder etwas sehr Wichtiges — es droht sonst das Verrücktwerden. Da denke ich natürlich an mein Interesse am Heimatort meiner Mutter, des Vaters. Den Kontakt zur letzten ,Zeitzeugin Annemarie, die ins Haus kam, als ich vier Jahre alt war und die gleich zu Anfang die Ereignisse, den Tod des Vaters miterleben musste. Meine Fahrt ins Böhmische und nach Württemberg.