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Und noch einmal die Frage/Antwort, was es für Nachkriegskinder hieß/heißt, sich mit der familiären NS-Vergangenheit zu beschäftigen? Susanne Fritz: Ich will etwas erzählen und darfes nicht. Es mag tiberspannt klingen, wenn eine Fünfzigjährige sagt, meine Mutter verbietet es mir. Ich würde gerne ein Buch schreiben, darf es aber nicht. Meine Mutter ist verstorben und könnte sich nicht mehr dagegen wehren. Mit dem Tod enden aber nicht die Beziehungen und die gegenseitigen Abmachungen. Meine Trauer macht mich noch scheuer, unsicherer denn je. Bin ich frei? Zu sagen und zu schreiben, was und wie immer ich will? Sie wollte nicht, daß ich über sie schreibe. Sie wollte überhaupt nicht, daß ich schreibe. (...) Doch wie kann ich erzählen, ohne ihre Erfahrungen mit zu erzählen, ging ihre Welt doch meiner voraus, schreibe ich doch in meiner Muttersprache, also in ihrer? Sobald ich von mir spreche, spreche ich unvermeidlich auch von ihr? Ihr Verbot zu beherzigen hieße, auch mich selbst aus meiner Erzählung zu verbannen. Was Gertrud Haarer so nicht schreibt, aber es könnte so gewesen sein: Daß ihr Entschluß, die Memoiren ihrer Mutter zusammen mit ihren eigenen Erinnerungen zu publizieren, eine Reaktion auf Sigrid Chamberlains Buch war. In ihrem Fall gibt es kein mütterliches Schreibverbot, sondern ein Denk- und Kritikverbot. In ihrer Jugend, so erzählt Gertrud Haarer, habe sie die Mutter reflexartig gegen alle Angriffe verteidigt. Für ihr Buch „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiographien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter“ musste sie schlußendlich diese Haltung aufgeben. So war auch in diesem Fall, wo es kein Familiengeheimnis zu verraten gab, der Weg, mit der Familiengeschichte in die Öffentlichkeit zu gehen, von Zweifel und Zerrissenheit begleitet. Die Herausgeberin des Buches von Gertrud Haarer, Rose Ahlheim, in ihrem Vorwort dazu: Das Denkverbot, das Johanna Haarer sich auferlegt hatte, muss machtvoll gewesen sein. Es galt für die ganze Familie, und die Tochter Gertrud brauchte lange, bis sie es durchbrechen konnte. Sie ist die einzige in der Familie, die es gewagt hat. (...) Eindrucksvoll ist das Ende ihrer jahrelangen Schreibblockade beschrieben: Der erste Text, den sie zu Papier bringen kann, ist die wehmütige Beschreibung des fremd gewordenen, ein wenig heruntergekommenen, einst so geliebten Hauses. (...) Dieser Blick durch den alten Lattenzaun ist mit Trauer geladen, die mit der Entidealisierung der Elternfiguren und der Familie einherzugehen pflegt— ein Abschied, den sie nun nachholt und der ihr den Weg frei macht. Gertrud gibt auch zu erkennen, wie sie andererseits immer noch (wie es wohl jeder von uns tut) um Einigkeit mit der „inneren“ Mutter ringt. Der hin und wieder auflauchende Gedanke „was hätte die Mutter dazu gesagt‘, ist nun nicht mehr geprägt von Trotz und Selbstbehauptung, wie sie in früheren Jahren notwendig waren. Aber er taucht eben auf. Sie weiß‘: Irgendwie wird die Mutter in ihr immer präsent bleiben. Die Doppel-Memoiren von Mutter und Tochter Haarer sind insofern ein Unikum, weil hier ein Nazi selbst zu Wort kommt und zwar nicht zu knapp - über 200 Seiten. Johanna Haarer schrieb ihre Erinnerungen als Achtzigjährige, alkohol- und medikamentenabhängig, kurz vor ihrem Tod in einem munteren Plauderton. Ob sie selbst die Memoiren veröffentlichen wollte? Wie auch immer: Wer immer hautnah erleben will, wie es sich anfühlt, von einem Nazi über den Tisch gezogen zu werden, so daß man schon fast an seine Unschuld glaubt, dem kann ich die Lektüre von Johanna Haarers Memoiren: „Kein besonderes Schicksal oder: Vom Hundertsten ins Tausendste“ nur wärmstens ans Herz legen. Der Text ist lebhaft, witzig und mit emanzipatorischem Elan geschrieben - sie hat es, daran kann man beim Lesen nicht zweifeln — verstanden, Menschen für sich zu gewinnen, zumindest die Frauen. Ein Beispiel: Das von ihr in den Text eingebaute Zitat ihrer Landsmännin EbnerEschenbach: „Jede gescheite Frau hat Millionen von geborenen Feinden: — alle dummen Männer.“ Verlorene Gesichter Alexander und Margarete Mitscherlich: Wo Schuld entstanden ist, erwarten wir Reue und das Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Wo Verlust erlitten wurde, Trauer, wo das Ideal verletzt, das Gesicht verloren wurde, ist Scham die natürliche Konsequenz. Die Verleugnungsarbeit erstreckte sich gleichermaßen auf die Anlässe für Schuld, Trauer und Scham. (...) Man hielt das für besser als „fruchtloses Wühlen in der Vergangenheit“. Wenn überhaupt Erinnerung, dann als Aufrechnung der eigenen Schuld gegen gegen die Schuld der anderen. Manche Greuel seien unvermeidbar gewesen, weil die Greuel der Gegner das Gesetz des Handelns vorgeschrieben hätten. Schließlich löste sich die eigene Schuld auf dem eigenen Konto vollends auf. Und was hätten die Nazis ihren Kindern, später Enkeln, auch groß sagen sollen? Wir haben MitbürgerInnen, Nachbarn, Bekannten, Freunden ihre Wohnungen, ihre Häuser, ihre Geschäfte, ihre Firmen weggenommen, haben sie ins Lager verschleppt und als Sklaven arbeiten lassen und schlußendlich so viele ermordet, wie wir technisch imstande waren? Adolf Hitler, unser Führer, hatte uns versprochen, wir bräuchten kein schlechtes Gewissen haben, er würde allein die Verantwortung dafür übernehmen. Jetzt haben wir aber den Krieg verloren und der Führer hat sich das Leben genommen, ohne uns einen Plan B zu hinterlassen? Und für die Kinder ist der Gedanke, daß die Eltern Verlierer sind, noch schwerer zu ertragen als der Gedanke, daß sie Verbrecher sind? Die „unter der Hand“ weitergegebenen Denk- und Gefühlsverbote in Familien mit NS-Vergangenheit und der damit verbundene Leidensdruck wurde im Fall von Gertrud Haarer und Susanne Fritz erst relativ spät im Leben „schlagend“. Und — wichtig: Diese Artder seelischen/mentalen Störung überhaupt an die Oberfläche dringen zu lassen und sie zu beschreiben, erforderte Mut und ist ohne die grundsätzlich positive Einstellung der beiden Autorinnen überhaupt nicht denkbar. Hier wurde mit hohem persönlichen Einsatz gearbeitet. Die beiden hier empfohlenen Bücher sind vor allem für die, die sich für die „Frauenseite“ der Geschichte interessieren, zwei „Grundbücher“, lesenswerte Beiträge zum heurigen Erinnerungsjahr an Kriegs- und NS-Diktaturende 1945. Johanna Haarer, Gertrud Haarer: Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiographien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter. Hg. und eingeleitet von Rose Ahlheim. Hannnover: Offizin 2012. Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind. Göttingen: Wallstein 2018. Dezember 2020 31