OCR
nutzen, kann die kognitive Anregung und die nötige geistige Auseinandersetzung für das Erlernen weiterer Sprachen fördern. Ich unterrichte regelmäßig drei syrische Kinder in Arabisch. Ich habe gemerkt: Seit ich die Stunde auf Deutsch und Arabisch gleichzeitig gestalte, indem wir jedem neuen Begriff einen deutschen gegenüberstellen, hat die Effektivität und Aufmerksamkeit merklich zugenommen. Auch der soziale und der psychische Aspekt sind von großer Bedeutung. Dadurch, dass diese Vielfalt an Sprachen in der Klasse sichtbar gemacht wird, dass diese Sprachen existieren und Platz in der Gesellschaft haben, werden Schüler*innen automatisch von dem Gefühl befreit, dass ihre Sprache eine Schande sei. Das gibt ihnen das nötige Selbstbewusstsein und motiviert sie, die zweite Sprache zu erlernen. Wenn nämlich ein Kind in der Schule erfährt, dass die Sprache, die es zuhause spricht, die die Eltern sprechen, nichts wert sei, dann hat das verheerende Folgen für seine Persönlichkeit. In manchen Fällen ist die Zweisprachigkeit dieser Schüler*innen nicht das Problem, sondern es hängt von dem schlechten Sozialstatus und vom Sprachprestige dieser Familien ab und wie bestimmte Sprachen in der Gesellschaft wertgeschätzt werden. Wenn ein Kind deutsch-spanisch aufwächst, finden wir es toll; wenn es aber deutsch-türkisch aufwächst, ist es ein Problem. Ich hoffe, dass es nicht lange dauern wird, bis sich das Schulsystem dieses Problems annimmt und nicht mehr stur für rein deutschsprachige Schüler*innen gestaltet wird. Die Kinder sind so verschieden wie nie zuvor. Trotzdem werden Kinder, die andere Sprachen sprechen, als Problem wahrgenommen. Viele schen in der Muttersprache den Grund für mögliche Deutsch-Defizite dieser Schüler*innen. Obwohl die Wissenschaft mehrfach belegt hat, dass Mehrsprachigkeit zahlreiche positive Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung hat. Kinder, die mehrere Sprachen beherrschen, sind besser in Mathematik und können sich schneller eine weitere Sprache wie zum Beispiel Englisch aneignen. Kinder hingegen, die mit Spracharmut und einsprachig aufwachsen, sind unterfordert. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Es gibt keine Schublade für Deutsch, keine für Türkisch und keine für Englisch. Wenn die Erstsprache ein gutes Fundament hat, profitiert auch die Zweitsprache und jede weitere Sprache, die man lernt. Während meiner Recherche wurde ich auch mit einem der wohl absurdesten Argumente konfrontiert: „die Eltern sollen mit NEUE TEXTE ihren Kindern zuhause Deutsch sprechen, dann haben sie weniger Schwierigkeiten im Unterricht“. Doch genau damit erreicht man wohl das Gegenteil. Wie sollen Eltern mit ihren Kindern eine Sprache sprechen, die sie selbst nicht korrekt beherrschen? Das wirkt sich auf die Sprachentwicklung beider Seiten negativ aus. Bessere Forderung an die Eltern wäre, dass sie differenzierter in der Muttersprache reden und auf die Gewinnung eines größeren Wortschatzes achten. Wenn ich mich in meiner Muttersprache mit großem Wortschatz differenziert ausdrücken kann, werde ich automatisch dasselbe beim Deutschlernen anstreben. Tatsache ist: Wir sind alle sehr verschieden. Das ist kein Nachteil, sondern unser Potenzial. Wir müssen lernen, mit unserer Vielfalt und Individualität konstruktiver umzugehen und sie als eine große Chance und Bereicherung zu schen. Wir können die Realität der existierenden Diversität nicht verleugnen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einer mehrsprachigen Gesellschaft leben, in der ein nachhaltiger Bedarf an gut ausgebildeten zwei- oder mehrsprachigen Menschen besteht. Es ist Aufgabe der Politik, individualisiertes Lernen zu ermöglichen und aufzuhören, aus der einzigarten Diversität dieses Landes polarisierende Politik zu betreiben, um politisches Kleingeld zu machen und billig Stimmen zu gewinnen. Apropos ... mittlerweile gehe ich selbstbewusst an mein Handy, wenn mich meine Mutter beim Einkaufen anruft, und richte der Kassiererin liebe Grüße aus Damaskus aus. Jad Turjman wurde 1989 in Damaskus geboren, wo er bis zu seiner Flucht im Jahr 2014 lebte. Während seines Studiums der englischsprachigen Literatur an der Universität von Damaskus hat er im Magistrat gearbeitet und dort den durch Krieg obdachlos gewordenen Menschen geholfen. Als er einen Einberufungsbefehl erhält, entscheidet er sich mit dem Rückhalt seiner Familie zur Flucht, die ihm in Österreich ein neues Leben ermöglicht. Seine Erlebnisse und Eindrücke während dieser Zeit hat er in seiner Autobiographie „Wenn der Jasmin auswandert“ auf Deutsch zusammengefasst. Drei Jahre hat er als Asylbetreuer beim Samariterbund gearbeitet, seit September 2018 arbeitet er als Gruppenleiter im Rahmen des Projektes Heroes, das sich gegen Unterdrückung im Namen der Ehre einsetzt. Jad bietet an zahlreichen Schulen die verschiedensten Formate an: Vorträge, Schreibwerkstatten, Lesungen und Workshops. Livia Getreider Reise nach Polen Oktober 1987 Wir überqueren die Grenze bei Hainburg. Der österreichische Zollbeamte sicht nicht in unsere Pässe. Über dem Zollhaus der Tschechen steht in großen Lettern: BRATISLAVA. Die Farbe blättert ab. Gleich eine auffallende Schäbigkeit. Im Niemandsland zwischen zwei Welten blicke ich von einem Zollhaus zum anderen, schaue auf das Schild „Bratislava“ und denke, das müsste ich fotografieren. Dass ich das gar nicht dürfte, vielleicht, wird mir erst bewusst, als der Zollbeamte mich fragt, ob ich auch einen Fotoapparat bei mir habe. Ich muss die Marke 36 ZWISCHENWELT angeben, ihn herzeigen, er wird registriert. Die Klos sind schmutzig, das Wasser funktioniert nicht. Alles entspricht bereits hier dem Klischee vom Osten - in Sichtweite das österreichische Zollhaus. Jetzt bin ich in Bielitz, heute Bielsko-Biala. Kann es kaum glauben. Bei jedem alten Haus denke ich: das haben meine Großeltern gesehen. Hier, der Bahnhof, hier sind sie wahrscheinlich gestanden, als mein Vater eingerückt ist und sich von ihnen verabschiedet har. Ich glaube die Bilder zu schen, die mein Vater jetzt sicht, glaube, dass mein Vater, während wir hier am Bahnhof vorbeifahren, seine Eltern hier sicht. Sche meinen Vater als jungen Mann in Uniform vor diesem Bahnhof und gleichzeitig sche ich meinen