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der untersten Stufe, ein Hufeisen. „Das hat mein Vater hierher genagelt.“ Ich erfasse es nicht gleich, kann es nicht glauben. Hier gibt es ein Haus, eine Stiege, ein Hufeisen ist hier eingenagelt und sicher weiß kein Mensch mehr, woher es stammt. Und nun stehen wir da, und Papa sagt: Das war mein Vater, der es hierher genagelt hat. Plötzlich, unvermittelt, eine Spur meines Großvaters. Ist das Heimat für mich? Wo meine Großeltern gelebt haben. Vielleicht ist Österreich deswegen nicht Heimat, weil ich die erste Generation dort bin, dort keine Wurzeln habe. Auch mein Freund Peter sagte einmal: Heimat ist ein Generationenproblem. Das angrenzende Haus - ein Riesenvilla, die verfällt, ein Patrizierhaus. Papa sagt: „Das waren die ..., da war ein kolossaler Klassenunterschied zu uns.“ Auf der einst herrschaftlichen Terrasse, von der eine Steintreppe in den Garten führt, hängt jetzt Wäsche und Bettzeug ist ausgebreitet. Der Verputz blättert ab. Wir gehen zur Straße zurück, zum Auto. Fahren zum jüdischen Friedhof, die Kaiserstraße hinauf. „Hier ist die Gerda geboren“, sagt Papa und deutet auf ein niedriges Haus. „Und hier hatten sie, die Kleins, ein Spezereigeschäft.“ Etwas entfernt davon deutet er auf ein anderes Gebäude. „Schau, das war eine Fabrik, die hat der Leo Mückenbrunn mit 21 gebaut. Er war ein Genie und ein Hochstapler.“ Leo Mückenbrunn, ein Cousin meines Vaters, ich sehe das Foto vor mir, das wir von ihm zu Hause haben. Ein Dandy mit Spazierstock und gestreifter Hose, der es bis nach Konstantinopel gebracht hatte, wo er, wie es von ihm hieß, ‚riesige Geschäfte‘ machte. Leo Miickenbrunn — ich muss über diesen Namen lächeln. Er hätte vielleicht ein Fräulein Rosenblatt heiraten sollen. Der jüdische Friedhof, sehr verwildert. Manche Grabsteine sind gänzlich von Efeu überwuchert und bilden dadurch seltsame Gestalten. Auf einem Grabstein steht: Nichtenhausen. „In der Familie gab's einen Playboy,“ sagt Papa. „Und der schönste Mann Jehovas ist der Nichtenhausner Boas.“ Mein Vater ist voll von Sprüchen und Geschichten. Hier auf diesem Friedhof können sich meine Vorstellungen an etwas klammern, werden plastisch. „Das war die Totenhalle“, ich war oft bei Begräbnissen hier.“ Wir verlassen den Friedhof, fahren in die Stadt zum Gymnasium. Ein großes stattliches Gebäude, im Stil ähnelt es dem Akademischen Gymnasium in Wien. Bogengänge und ein weitläufiger Schulhof mit Fußballplatz. Der Direktor hat denselben Raum wie seinerzeit sein Vorgänger. Die Schule ist nach Pavel Finder benannt, wie man am Eingang belehrt wird, ein verdienstvoller Revolutionär, Organisator der KP in Schlesien, der diese Schule besucht hat. Der Direktor führt uns durch die Schule, zeigt uns Klassenzimmer. In manchen springen die Schüler auf und der Direktor sagt zum Professor: „Der Herr ist ein Absolvent dieser Schule, Matura 1931“. Wir werden freundlich begrüßt. Die Einrichtung der Klassenzimmer ist ärmlich und schäbig, die Tische schmal, teilweise mit zerkratzten Fournierplatten, teilweise Holztische, die noch eine Vertiefung für das Tintenfass haben, vielleicht also noch aus der Vorkriegszeit stammen. „Man renoviert die Schule seit Jahren“, sagt uns der Direktor. „Aber sie ist groß und das kostet sehr viel Geld.“ Vor dem Krieg waren vierzig Prozent der Schüler hier Juden. Es war das Gymnasium der Stadt mit deutscher Unterrichtssprache. „Vor dem Krieg waren 65 Prozent Deutsche, 20 Prozent Polen und 15 Prozent Juden in der Stadt,“ sagt Poldi Klein, den wir am Nachmittag treffen. „Heute sind in der Stadt 27 Juden ‚registriert‘ und man hat Schwierigkeiten, ein Minjan zusammenzubringen. 38 _ ZWISCHENWELT Aber das ist nicht das Problem,“ sagt er. „Das Problem ist für mich, ich gehe in die Stadt und treffe keinen einzigen Bekannten. Alle anderen Juden sind hier nicht geboren. Ich bin der einzige geborene Bielitzer.“ Die Stadt heißt heute Bielsko-Biala und besteht aus zwei Städten, die 1951 zusammengelegt wurden. Biala gehörte zu Galizien, Bielsko zu Schlesien und der Grenzfluss teilt nun die Stadt Bielsko-Biala. „Es fehlen in Polen zehn Millionen Wohnungen“, sagt Klein. „Jedem ist ein Wohnraum von zehn Quadratmetern zugeteilt, wenn er mehr hat, wird es ihm genommen.“ Er selbst hat eine Eigentumswohnung. Dafür hat er sein ganzes Leben lang gearbeitet. Er hat keine Erben. „Wem werde ich das vererben?“. 1968 wurden alle Juden aus den Ämtern und Jobs entlassen und quasi aufgefordert, außer Landes zu gehen. Die meisten sind emigriert. Heute sind 1 100 Juden in Polen registriert. Tatsächlich schätzt er die Zahl auf 3 000. Es gibt den Kulturverband der Juden Polens, der in manchen Städten zu 70 bis 80 % aus Nichtjuden besteht. Dieser Verband erhält Geld vom Joint und soll nach außen die Liberalität der Polen gegenüber den Juden repräsentieren. Tatsächlich sei er eine staatliche Organisation und werde vorwiegend von Opportunisten benützt. Wir gehen mit Poldi Klein durch die Stadt. Die Straße ist voller Betrunkener, man weicht dem einen aus und rempelt einen anderen. Wir betreten das einst schönste Restaurant der Stadt, früher ‚Bauer‘, heute ‚Patria‘. Der Saal ist imposant und bezeugt einstige Eleganz, ein Tanzsaal. „Auch hier waren wir beim ‚Five o’clock‘“, sagt Papa. Ein Betrunkener folgt uns. Ich stelle mir die Unterhaltung von damals hier in diesem Saal vor, sauge die Atmosphäre ein, die er noch immer ausstrahlt. Dann gehen wir die Lenina hinauf. Papa und Klein sagen, dies sei die vornehmste Straße gewesen. Heute ist es dunkel hier und es sind fast nur Betrunkene zu schen. Es ist 18.30 Uhr. Klein sagt, an diesem Tag gäbe es besonders viele Betrunkene, denn es ist der 15., das heißt ‚Auszahlung‘. Er selbst gehe, wie die meisten ‚Bürger‘, abends nicht aus der Wohnung. Mir gefallen die dunklen Straßen. Die Lampen sind spärlich. Die Augen des alten Mannes leuchten. Er zeigt uns seine Fleischkarte, zweieinhalb Kilo pro Monat pro Person. Um Klopapier stellen sich manchmal achtzig bis hundert Menschen an. Wir fahren ihn nach Hause, über die „Bleiche“. Ein altes Fabriksgebäude nach dem anderen, Textilfabriken, in denen man mitten in der Nacht arbeitet. Die Neonbeleuchtung dringt auf die Straße, mein Vater sagt, das seien meist jüdische Betriebe gewesen. Heute ist alles staatlich. In einem dieser Gebäude hat mein Vater gearbeitet. Fränkel, sein Arbeitgeber, hatte hier ein paar Säle gemietet und Maschinen stehen gehabt. Wir gehen nahe an die Gebäudemauer und drücken fast unsere Nasen an die Fenster, um die Maschinen zu sehen. Wenn ich meinem Vater zuhöre, gewinne ich den Eindruck, die Stadt war voller Juden. Heute ist es eine Stadt ohne Juden. In acht Jahren, meint Klein, hat sich das Judenproblem in Polen gelöst. Mein Vater zeigt ihm eine Postkarte. Die letzte, die Hella ihm geschrieben hatte, aus Tarnov, 1941. „War die Rosl 1941 in Tarnov?“ die Rosl war nämlich die Schwester von Klein. Dieser erinnert sich nicht. Auf der Karte hat die Rosl mitunterschrieben: Viele Grüße Rosl. Mich würde interessieren, was Hella meinem Vater geschrieben hat. Ich sche bloß die Anrede: mein geliebter Jogo. Ich will schon fragen, ob ich lesen darf, da denke ich: das war seine Freundin,