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Das Friedhofsgebäude, die Zeremonienhalle, ein Backsteingebäude in schr gutem Zustand. Später wird uns der Historiker erklären, die Gemeinde würde darin eine Wohnung vermieten, und die Leute würden dafür den Friedhof pflegen. Das sicht man. Unser Urgroßvater und seine Frau sind darin nicht begraben worden, sondern auf einem anderen Friedhof, der inzwischen aufgelassen worden ist. Wir finden kein Grab, das von Verwandten von uns stammen könnte. Danach spazieren wir die Straße hinunter, um das Haus zu finden, in dem mein Vater aufgewachsen ist, Kaiserstraße 43. Das Haus, das an dieser Adresse steht, ist jedoch ein Neubau, an einer Straßenecke gelegen, und nun erinnern wir uns, dass unsere Tante, die Schwester meines Vaters, das Haus ihrer Eltern verkauft hat, als sie nach dem Krieg aus Russland zurückgekehrt war. Es wurde offensichtlich abgerissen und durch einen Neubau ersezt. Um vier Uhr nachmittags treffen wir den Historiker Dr. Proszyk. Er öffnet das Tor eines sehr heruntergekommenen Hauses, das einst prachtvoll gewesen sein muss, wir betreten ein dunkles Stiegenhaus und steigen in den ersten Stock. Hier hat die jetzige jüdische Gemeinde ihren Sitz. Er zeigt uns einen kleinen Synagogenraum, ausgestattet mit Bimah, Thorarollen und ein paar Sesseln. An hohen Feiertagen werde hier gebetet. Es würden sich noch ein paar hundert Juden in Bielitz befinden, aber schr „gemischt“; soll bedeuten, nur ein Teil ihrer Vorfahren ist jüdisch. Ungefähr 50 Juden sind in der Gemeinde eingetragen. Die Gemeinde sei auch vor dem Krieg bereits schr liberal gewesen, man benötige daher auch jetzt keinen Rabbiner oder koscheres Fleisch. Meine Schwester fragt, wo sich das chemalige jüdische Ghetto befunden haben könnte. Er sagt, dass man in Bielitz bereits am 1. September 1939 gewusst habe, dass die Deutschen am 3. September einmarschieren würden. Es habe in der deutschen Armee Soldaten gegeben, die aus Österreich kamen, aber aus Bielitz stammten. Sie hätten ihren Verwandten diese Information gegeben. So hätten viele Juden ihr Eigentum an „Deutsche“ übergeben und seien nach Osten geflohen, nach Lemberg und Krakau. So wird es auch meine Tante und ihr Mann gemacht haben, denke ich mir, denn ich weiß, dass sie nach Lemberg geflohen sind. Ungefähr 1000 Juden sind geblieben. 1941 gab es nur mehr 350 Juden in Bielitz (darunter meine Großeltern). Diese hat man in drei großen Häuser gesammelt untergebracht. Das war das Ghetto. Im Frühjahr 1942 wurde es aufgelöst, die jüngeren Arbeitsfähigen wurden nach Sosnowitz in ein Arbeitslager deportiert, die anderen nach Auschwitz. Von den drei großen Häusern stehe noch eines, in der Towarowa 20, früher Lerchenfeld. Die in den Osten geflohenen Juden hätten gedacht, sie würden bald wieder zurückkommen, denn so sei es auch im 1. Weltkrieg gewesen. Wir fragen ihn, wo das deutsche Gymnasium gewesen sein könnte. Er sagt, es hätte viele davon gegeben. Meine Cousine erzählt, ihr Vater habe bei einer Art Modellkibbutz für junge Juden außerhalb der Stadt (Hachscharah) mitgearbeitet. Dr. Proszyk zieht ein Buch hervor, das er selbst über die Geschichte der Juden von Bicelitz verfasst hat, und zeigt uns eine Stelle, worin auf diesen Modellkibbutz Bezug genommen wird. Und da steht tatsächlich Sameks Name als Sekretär dieser Bewegung, er habe sein Büro in der Listopada 37 gehabt. Auch meinen Vater findet er in den Matrikeln, mit dem Geburtsort Lebensbrunngasse 4, und dem Namen des Beschneiders, des Mohel: Rapaport, sowie dem Namen der Hebamme. Alles noch handschriftlich vermerkt. Mit dem Auto fahren wir zum früheren Ghetto außerhalb des Zentrums gelegen. An der angegebenen Adresse befinden sich drei langegezogene vernachlässigt wirkende bewohnte Gebäude, in einem tristen Hof dahinter hocken Menschen auf Plastikstühlen. Wir gehen in eines der Häuser hinein, die Stiegen hinauf. Gut vorstellbar, dass man hier Menschen zusammenpferchen kann. Eine schmale Treppe, ein enger Gang, viele Wohnungstüren auf dem Stockwerk. Von hier ist also meine Großmutter deportiert worden. Mein Großvater ist vorher zusammengebrochen und gestorben. Vor dem Haus ruft mich meine Schwester und zeigt auf einen Zaun, ein paar Meter nach einem Rasenstreifen vor dem Gebäude. „Schau, da ist noch alter Stacheldraht zu sehen. Sicher noch aus jener Zeit.“ Wir steigen ins Auto, fahren am Bahnhof, einem wunderschönen restaurierten Backsteinbau, vorbei, zurück ins Zentrum. Am nächsten Morgen besuchen wir das Textilmuseum. Der Leiter höchstpersönlich schildert uns in schr engagierter Weise die Geschichte der Textilindustrie in Bielitz. Weiters sieht er in einem alten Adressbuch nach, wo er tatsächlich auch Alfred und andere Getreiders findet sowie die Silbigers. Nach dem Besuch des Museums suchen meine Schwester und ich die Lebensbrunngasse 4 a. Am Rynek lassen wir unsere Cousins zurück und gehen links hinauf zur Kaiserstraße. Der Leiter des Museums hatte uns den heutigen Namen der Gasse genannt. Wir sprechen einen jungen Mann an, und fragen ihn nach der Adresse. Er erklärt sich bereit, uns hinzuführen. Von der Kaiserstraße biegen wir in die zweite linke Seitengasse nach der „Krummen Brücke“ ab. Nummer vier ist ein Haus, an das ich mich ungefähr erinnern kann. Doch als ich die Haustür öffne, sehe ich keine Holzstiege und kein Hufeisen. Dann erblicken wir im Hof ein zweites Gebäude und gehen darauf zu. Ich öffne die Haustür und sche das Hufeisen, in die erste Holzstufe genagelt. Der Anblick erfüllt uns mit Rührung. Auch der junge Mann fotografiert es. Es soll Ihnen Glück bringen, sage ich. Wir steigen die Treppe hinauf, man hat uns gehört, eine Tür wird geöffnet. Eine junge Frau steht darin, barfuß. Mit Hilfe des Mannes versuchen wir, ihr zu erklären, dass unser Vater hier geboren ist. Sie spricht ein paar Brocken Englisch. Wir gehen hinein. Ein Vorraum, in einer Ecke eine Art Küche, schr klein, total vollgeraumt, sehr ärmlich. ich wage nicht zu fragen, ob wir das andere Zimmer sehen können. Am Gang noch eine Frau, älter. Wir deuten der jungen Frau, sie möge mit uns mitkommen. Wir zeigen ihr das Hufeisen, und erklären ihr, es sei von unserem Großvater hier angebracht worden. Sie wirkt schr berührt, als sie es verstanden hat. Wir verabschieden uns und gehen. Am Nachbargrundstück ein verfallendes Patrizierhaus. Am Rynek treffen wir uns mit unseren Cousins, die gerade darüber nachdenken, welches der Häuser wohl das war, in dem das Schuhhaus Delka untergebracht war, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Auf der Rückfahrt nach Wien ist es heiß, in Olmütz ein Stau. Am späten Abend kommen wir in Wien an. Livia Getreider, geboren 1955 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften, schreibt Lyrik und Prosa. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Dezember 2020 43