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Regina Hilber Armenien und Ararat Das Sichtbare im Unsichtbaren Wird über Armenien gesprochen, folgen meist wenige Assoziationen, die in ihrer Dialektik jedoch sehr weit auseinanderklaffen: Der Genozid der Jungtürken an das Armenische Volk in den Jahren 1915-1917 und, um nur ein Beispiel zu nennen, die alternative Metal-Band System of a Down, allen voran Leadsänger Serj Tankian. Aber auch Charles Aznavour, der als Schahnur Waghinak Asnawurian in Paris geboren wurde, darf sich in diese Assoziationen reihen. Beide wuchsen in der Diaspora auf und haben immer wieder auf ihre armenischen Wurzeln hingewiesen. Natürlich, wer hätte gedacht, dass dieser Name jemals Einzug in einen literarischen Esssy halten würde, werden in diesem Kontext auch die Kardashians genannt, allen voran Kim Kardashian-West. Die Popkultur-Familie aus Los Angeles besuchte Jerewan vor vier Jahren, wie mir Chris Bohjalian, ein US-amerikanischer Autor mit armenischen Wurzeln beim letzten Literary Ark Festival, dem bis 2017 jährlich stattfindenden internationalen Literaturfestival in Armeniens Hauptstadt, bestätigt. Der Besuch der Kardashians kam einem Staatsbesuch gleich. Der Autor Chris Bohjalian steht hier exemplarisch für einen der rund drei Millionen Menschen, die sich als Armenier definieren, aber nicht in Armenien leben oder nie dort gelebt haben und zum Teil nicht, oder nur partiell, die armenische Sprache beherrschen. So auch der Romancier aus Vermont, der mit The Sandcastle Girls im angloamerikanischen Raum einen veritablen Verkaufserfolg verzeichnen konnte und in allen wichtigen Feuilletons in den USA und in Großbritannien besprochen wurde. Der Roman greift ein Genozid-Schicksal auf und verankert die Geschichte vorwiegend in der Syrischen Stadt Aleppo, wohin nach 1915 Hundertausende Armenier geflohen waren, um dem sicheren Tod durch die Jungtürken zu entkommen. Der Handlungsort Aleppo war in jüngster Zeit vor allem durch den andauernden Syrienkrieg in den öffentlichen Fokus gerückt. Im Roman 7he Sandcastle Girls werden wir daran erinnert, dass Syrien während des Ersten Weltkrieges eine zentrale Rolle als Fluchtort für das vertriebene armenische Volk spielte und in dieser Stadt Tausende verwaiste Kinder aufgenommen wurden. Eine ganze elternlose Generation war nach dem Völkermord in der Diaspora in Syrien und auch in Nordamerika herangewachsen. Die Zahl der durch den Völkermord verwaisten armenischen Kinder wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt. Ein weiterer prominenter Vertreter der armenischen Diaspora-Literatur, vor allem im deutschsprachigen Raum, ist der rumänische Schriftsteller und Politiker Varujan Vosganian, dessen Großeltern nach Rumänien geflohen waren. Im Zsolnay-Verlag erschienen zuletzt seine Bücher Das Spiel der hundert Blätter und Als die Welt ganz war. Armenien ist eines der Länder, die sich manchem Betrachter erst nach dem Aufenthalt erschließen. Zumindest erging es mir so. Diesem Umstand verdanke ich eine beglückende Nachbetrachtung, eine die anhaltend ist und kleine Mysterien birgt. Eine Frage, die mir nicht beantwortbar erscheint, tut sich in diesen Nachbetrachtungen auf: Hatte ich den Berg Ararat, das Nationalsymbol der Armenier während meines ersten Aufenthalts in Armenien gesehen, oder nicht? 44 ZWISCHENWELT Ich versuche zu rekonstruieren. Zeigte sich mir der schneebedeckte Ararat während der Reise tatsächlich, oder wünschte ich mir das nur? Oder hatte ich ihn zwar geschen, aber einfach nicht wahrgenommen und so die Erinnerung daran nicht abgespeichert? Recherchen ergeben, dass aufjedem Bild, das Jerewan auf Prospekten, Plakaten, Reiseführern und im virtuellen Netz zeigt, eindeutig der Heilige Berg der Armenier im Hintergrund zu erkennen ist und zwar so explizit sichtbar, dass man geneigt ist, an Fotomontage zu denken. Unabhängig von Jahreszeit und Blickrichtung thront der Ararat im Hintergrund. So, wie das Bergmassiv mit seinen zwei Hauptgipfeln in schr klaren und scharfen Umrissen von allen Fotos leuchtet, kann das nicht ganz der Realität entsprechen. Der Ararat, wie weite Gebiete im Westen des ursprünglichen armenischen Territoriums, wurden vor hundert Jahren von den Jungtürken einverleibt und so zu türkischem Staatsgebiet. Die Hauptstadt Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt, und das Araratmassiv trennen heute die türkische Staatsgrenze und rund fünfzig Kilometer fruchtbare Ebene. Endang der gesamten türkisch-armenischen Staatsgrenze sind Grenzübertritte nicht erlaubt. Das „heilige“ Araratmassiv ist von Armenien aus nicht zugänglich und nur auf großem Umweg über das nördliche Nachbarland Georgien bzw. über einen ebenso großen Umweg im Süden über den Iran zu erreichen. Diese theoretische Wegstrecke würde sich jeweils auf die vierzehnfache Distanz ausweiten. Das Unsichtbare wird also dort sichtbar, wo jahrhundertelange Verwurzelung und Zwangsentkoppelung untrennbar miteinander verbunden sind und das greifbar Nahe in weite Ferne rückt. Tatsächlich ist das Vulkanmassiv in seiner eindeutigen Dimension vorwiegend an klaren Herbstmorgen zu schen, bevor sich möglicher Smog und Nebeldunst über der Stadt ausbreiten. Der Ararat bleibt das Nationalsymbol der Armenier und als solches wird er konsequent in die Wahrnehmung hineinmontiert. Die armenische Landesflagge zeigt den Heiligen Berg samt den Umrissen der Arche Noah, die It. Geschichtsschreibung ebendort, auf urchristlichem Territorium, gelandet sein soll. So sichtbar der Berg für die Armenier seit jeher historisch verbunden war und ist, meinem Auge bleibt er verborgen. Eine Leerstelle auch. Das Sichtbare im Unsichtbaren. Was im Land der Steine und der Rohbauruinen aus jüngster Zeit jedoch nicht nur sichtbar, sondern geradezu körperlich spürbar ist, sind die Auswirkungen des Genozids an den Armeniern. Nach einer nur wenige Monate andauernden anschließenden Unabhängigkeit wurde das Land von der damals frisch gegründeten Sowjetunion einverleibt. Diese Tragiken haben sich in jeder einzelnen Generation nachhaltig manifestiert. Bewusst und unbewusst zugleich. Für mehrere Generationen hat dieses Trauma sowohl Motor als auch Rhythmus des Landes mitbestimmt. Eine gigantische Wunde klafft da, eine, die nicht gestillt werden kann. In Zahlen zählt diese Wunde rund eineinhalb Millionen getötete Armenier. Zwei zentrale Bilder tun sich in der Auseinandersetzung mit Armenien fiir den Betrachter auf: Der Ararat (weiterhin fiir mich unsichtbar) und der Genozid (sichtbar). Obwohl die Auswirkungen