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des Genozids auf den Einzelnen nicht gegenständlich abgebildet werden können, zeigt sich der Völkermord als das Sichtbare im Unsichtbaren. Imagination (als Rückschau vom Heute in das Jahr 1915) und Manifestation bilden eine Einheit, werden zur Wirklichkeit, eine Wirklichkeit die von der Türkei weiterhin rigoros ignoriert wird. Das Genozid-Mahnmal Tsitsernakaberd (dt. Schwalbenfestung) am gleichnamigen Hügel im Norden Jerewans dokumentiert die einschneidenden Ereignisse in der Geschichte der Armenier. Der Genozid und seine verheerenden Auswirkungen haben ein nachhaltiges, starres Prinzip evoziert, ein Prinzip der Unbeweglichkeit. Die anschließende, fast siebzigjährige kommunistische Fremdherrschaft durch die ehemalige UdSSR hat dieses Prinzip noch verstärkt. Relativ konfliktfrei wurde 1991 die Armenische Republik nach dem Zerfall der Sowjetischen Großmacht ausgerufen und Lewon Ter-Petrosian als erster Präsident ins Amt gewählt. Auch Ter-Petrosian wurde, wie viele Nachkommen der Überlebenden des Völkermordes, im syrischen Aleppo geboren. International wird das Verbrechen an das armenische Volk auch durch die Anti-Völkermord-Konvention von vielen Staaten anerkannt (Österreich und Deutschland unterzeichneten diese Konvention 2015), andererseits wird es aber auch nicht angetastet. Die Wunde wird zwar wahrgenommen, aber nicht berührt und versorgt. Damit wird Armenien zumindest ein Stück weit gezwungen, weiterhin im Prinzip der Starre zu verharren. Und trotzdem, die notwendige Beweglichkeit, die das Land dringend braucht um dieses hundertjährige Trauma zu durchbrechen, muss von innen heraus, aus armenischer Kraft kommen. In einem für Jerewans Innenstadt viel zu modern anmutenden Kaffeehaus einer internationalen Franchise-Kette, wie es sie beinahe überall aufder Welt gibt, treffe ich auf ein junges verliebtes Paar, das sich mit einem Priester zur Besprechung einer Hochzeitszeremonie verabredet hat. Armen ist kürzlich aus Toronto nach Armenien emigriert. Seine Verlobte Mane aus Dschermuk, im Süden des Landes gelegen, hat er aufeiner Internetplattform kennengelernt. „Viel sei zu tun in Armenien“, antwortet Armen euphorisch auf meine Frage, warum er aus der kanadischen Diaspora in das ärmliche Heimatland seiner Eltern ausgewandert sei. Er wolle seinen kleinen Beitrag dazu leisten, Armenien aus der Resignation zu führen, das erfülle ihn mit Stolz. Auch der anwesende Priester seines Vertrauens, ein Vertreter der Armenisch-Apostolischen Kirche Nordamerikas, kommt aus Toronto. Für die Semmermonate organisiert der Geistliche regelmäßig Wanderungen in Armeniens Bergregionen für Nordamerikaner mit armenischen Wurzeln, um sie mit den Einheimischen vor Ort zu vernetzen. Die politische und wirtschaftliche Isolation erschweren den Umbruch, um das bis vor kurzem semiautoritär geführte Land aus der Resignation zu führen. Erst vor wenigen Jahren hatte sich Armenien durch einen weiteren Wirtschaftspakt noch stärker an Putins Russland gebunden. Im Mai 2018 wurde der Oppositionsführer Nikol Pashinyan überraschend vom armenischen Parlament zum Ministerpräsidenten gewählt. Pashinyan war es aus der Opposition gelungen, die Massen gegen den regierenden Staatschef Serj Sarkisyan zu mobilisieren und auf die Straßen zu bringen. Der langjährige Staatschef Sarkisyan konnte die notwendige Mehrheit im Parlament nach den Protesten nicht mehr erringen und musste abtreten. Der neuerliche Krieg um die Region Nagorny Karabach, seit 1994 als international nicht anerkannte „Republik Arzach“ existierend, konfrontiert Armenien mit einem Szenario massenhafter Flucht und Vertreibung der in Arzach lebenden ArmenierInnen. Aserbaidschan macht mit Unterstützung der Türkei und des Iran seine Gebietsansprüche gegen die Region geltend, deren Hauptstadt Stepanakert vor dem Fall zu stehen scheint. Dass Armenien mit Georgien das einzige überwiegend von ChristInnen bewohnte Territorium am Brandherd Kaukasus darstellt, macht seine isolierte Lage nicht gerade einfacher. Internationale Bemühungen um einen Waffenstillstand scheiterten vorerst. Bessere Infrastruktur und Energiegewinnung bleiben zentrale Themen, die eng mit einem wirtschaftlichen Aufschwung verbunden wären. Armeniens Stromversorgung bleibt ein Sorgenkind und hält nachts weite Straßenzüge in der Hauptstadt Jerewan im Halbdunkel. Diese nächtlichen Einsparungsmaßnahmen bleiben mir nicht verborgen. Wenn die Abenddämmerung einsetzt, verdunkeln sich die Gassen und ich stolpere über uneben verlegte Pflasterplatten. Die Stadt ist dann vom Hotelzimmer aus kaum auszumachen. Vom zwölften Stock eines neu errichteten Appartementhotels, das sich nur die allerwenigsten Armenier leisten können, blicke ich aufeine verfinsterte Landschaft aus Dächern. Die dunklen Straßen fanden hierzulande auch mehrfach Einzug in Gedichte und Geschichten. Seit einigen Jahren wird armenische Literatur, vorwiegend Gegenwartsliteratur, in kleineren und größeren Anstrengungen nach Europa getragen und u.a. in die deutsche Sprache übersetzt. Aber wie lässt sich heute armenische Literatur abbilden? Nach meinem zweiten Schreibaufenthalt in Armenien gebe ich die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus. Es ist dies mein Beitrag, den Armeniern etwas zurückzugeben für ihre Gastfreundschaft. Gleichzeitig erlaubt mir die Arbeit an der Herausgeberschaft einen tieferen Einblick in die armenische Literatur. Die ausgewählten Gedichte der zeitgenössischen DichterInnen spiegeln vor allem die geopolitische Situation in Armenien wider, neben gesellschaftspolitischen Strukturen sowie dem inneren Kampf um Identität und Authentizität. Auch in der Diaspora lebende AutorInnen kommen in der Lyrikanthologie zu Wort. Beim Ausloten des Begriffs Heimat wird immer auch die Heimatlosigkeit mitgeführt. Diese Heimatlosigkeit findet sich auch in den Gedichten der jüngsten Autorengeneration, jener Generation also, die ein Jahrhundert nach dem großen Genozid erste literarische Gehversuche macht, in Armenien geboren wurde und sich dennoch nicht heimisch fühlt. Sie hat ihre Eigenheiten und sich oftmals wiederholenden Bilder und Motive wie die der Engel, der sowjetisch geprägten Ära oder der Ausgangssperren, die armenische Dichtung. Blume für Blume (ihrer gibt es viele) wird auseinandergenommen, beiseite gelegt und daraus ein neuer Strauß gebunden wie im gleichlautenden Tal der Blumen — Tsaghkadzor, einer kleinen Bergstadt nördlich von Jerewan. Über die Unmöglichkeit, zeitgenössische armenische Literatur als Begrifflichkeit festzumachen, schreiben die in Frankreich lebenden Autoren Anahit Vanetissian und Mkrtich Matevossian in einem Artikel für die Plattform Transcript: „Ein Armenier wird bei der Definition weit ausholen und mit der Entstehung des Alphabetes im 5. Jha. beginnen....“, schreibt hier Vanetissian und macht damit auch deutlich, wie sehr sich Armenier mit kulturhistorischen Bezügen identifizieren. Nachdem ich den ersten Teil dieses Essays geschrieben habe, bestätigt mir ein armenischer Schriftstellerkollege, dass ich bei Dezember 2020 45