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Broidin, Herr in dem Haus, in dem Nickles Anstellung gefunden hat, ist Mitglied des Klans und hält hier esoterisch-religiöse Zirkel ab. Er ist aber auch mitverantwortlich für den Tod von Nickles, Joe und beider Freund William, an denen die Klan-Mitglieder am Ende des Romans ein grausames Exempel statuieren. Religiöser Fundamentalismus, Rassismus und die in den USA grassierenden Red Scare ergeben hier eine tödliche Mischung. Lekai/Lassen erzählt keine Geschichten von ruhmreichen Revolutionen oder heroischen Siegen. Stattdessen handeln seine Texte von Menschen, die sich für ihre Mitkämpferlinnen opfern, oder die sterben, weil sie sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr setzen. Dies ist es auch, was die beiden Texte zusammenhält, dass in ihnen der revolutionäre Kampf als Martyrium geschildert wird. „Irotz alledem!“ (259), so der letzte Satz von Sklaven und Herren, trotz aller Rückschläge wird in den Erzählungen an Hoffnung und Zuversicht appelliert und versucht, den Entbehrungen und Opfern einen Sinn zu geben. Dass dafür ausgerechnet die religiöse Figur des Märtyrers bedient wird, weist darauf hin, dass die bessere Welt, für die die ProtagonistInnen der Erzählungen eintreten, nicht mehr unmittelbar greifbar ist, sondern in eine ferne, wenn man so will jenseitige, Zukunft projiziert ist. Diese Form der Zuversicht auf ein gutes Ende fehlt in Maria Leitners Novelle Sandkorn im Sturm weitestgehend. Im Mittelpunkt steht Sara, die im Wirtshaus ihrer Schwiegereltern arbeitet und darauf wartet, dass ihr Mann Heinrich aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt. Zeitlich umfasst die Handlung die späte Phase der Räterepublik und deren Niederschlagung im August 1919. Der Machtwechsel wird bei Leitner allerdings gänzlich anders dargestellt als bei Lekai, denn die DorfbewohnerInnen begrüßen das Ende der Räterepublik mehrheitlich. In Sandkorn im Sturm kämpft entsprechend auch niemand gegen staatliche Repression oder mordende Geheimbünde. Stattdessen wird eine ländliche Gemeinschaft gezeigt, die sich vehement gegen sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel wehrt. Dabei zeichnet Leitner das Bild eines zutiefst traditionalistischen sozialen Gefüges, in dem Frauen verschiedensten Formen der Gewalt ausgesetzt sind und in der Lynchmord und antisemitische Exzesse auf der Tagesordnung stehen. Was die literarische Gestaltung anbelangt, ist Sandkorn im Sturm sicherlich Leitners gelungenste Erzählung. Gekonnt wird zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren gewechselt, dokumentarisch Erzähltes wird so immer auch aus der individuellen Perspektive der Protagonist*innen beleuchtet. Die wechselnden Erzählperspektiven steigern an vielen Stellen auch die Eindringlichkeit des Geschilderten, beispielsweise wenn die Täter selbst vom Mord an einem jüdischen Dorfbewohner erzählen. Hier schreitet keine narrative Instanz ordnend ein, die Ereignisse werden in ihrer ganzen Brutalität aus der Perspektive der unmittelbar Beteiligten zum Sprechen gebracht. In ihrem Vorwort nennt Helga Schwarz die Geschwister Leitner „Chronisten nachhallender revolutionärer Jahre“ (14). Als Chronist*innen erzählen sie von historischen Ereignissen und beleuchten diese aus unterschiedlichen Perspektiven. Als dezidiert politische Autor*innen ringen sie zugleich um ein Narrativ, mittels dessen die Ereignisse in einen größeren Zusammenhang gestellt werden können. Auf der Suche nach einem solchen Narrativ wählen beide unterschiedliche Wege: Während L&kai/Lassen die Figur des Märtyrers gegen die geradezu übermächtigen politischen Gegner*innen stark macht, versucht Leitner zu ergründen, wieso sich die revolutionären Ideen in der ländlichen Bevölkerung nicht durchgesetzt haben. "Thematisch haben die Texte in Die Träume der Märtyrer nichts an Aktualität eingebüßt: Autoritäre Tendenzen prägen das Ungarn unter Viktor Orbän, wo Miklös Horthy neuerdings wieder für seine „historischen Verdienste“ geehrt wird. Colorado Springs ist der Schauplatz von Spike Lees BlacKkKlansman (2018), an dessen Ende Hans Schafranek - seit langem dafür bekannt, mit einem stattlichen Rechercheaufwand und jahrelangen Archivstudien seine historischen Forschungsgegenstände akribisch zu rekonstruieren — hat auch diesmal die Erwartungen nicht enttäuscht und Licht ins Dunkel eines beklemmenden Kapitels nationalsozialistischer Verfolgung gebracht. Seine Geschichte der Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund Österreichs gerät allein schon deshalb zur aufwühlenden Lektüre, weil Verrat und Vertrauensbruch auch fern der politischen Sphäre massivste Verletzungen zur Folge haben und damit ein Grundthema menschlicher Beziehungen berühren. In präzisen Fallstudien wird die Unterwanderung von Widerstandsgruppen kommunistischer, sozialistischer und konservativer Provenienz durch 62 _ ZWISCHENWELT den Polizeiapparat dokumentiert. Es geht um das System der V(ertrauens)-Leute der Gestapo, in deutlicher Abgrenzung von den Denunzianten aller Schattierungen. Dafür hat die Wiener Gestapo nach der NS-Machtergreifung ein eigenes N-Referat (Nachrichtenreferat) geschaffen, das vom altgedienten Kriminalbeamten Lambert Leutgeb geleitet wurde, der schon vor 1938 als illegaler Nazi Wühlarbeit bei der Staatspolizei betrieben hatte. Das N-Referat konnte sich auf einen Stock von 400-600 V-Leuten stützen. Da der NS-Staat über ein dichtes, die gesamte Gesellschaft durchdringendes Netz von Kontroll-, Überwachungs- und Repressionsinstrumenten verfügte, blieb die Zahl der Gestapomitarbeiter relativ gering. (Schafranek weist zum Beispiel nach, dass das numerische Verhältnis von der Regisseur eine Verbindung zwischen der Ideologie des Ku Klux Klans und den jüngsten rechtsextremen Anschlägen in den USA herstellt. Der Lösung der von den Geschwistern Leitner beschriebenen Probleme scheinen wir heute nicht maßgeblich näher gekommen zu sein. Die fast 100 Jahre alten Texte können uns dabei an etwas erinnern: Statt nämlich in Anbetracht widriger Umstände zu verzweifeln, einer Politik der Sachzwänge das Wort zu reden oder in eine Logik des kleineren Übels zu verfallen, mahnen sie, trotz alledem, die Suche nach alternativen politischen Narrativen ein — und seien diese noch so utopisch. Stephanie Marx Anmerkungen 1 Rot und Weiß wurde erstmals zwischen 9. März und 22. April 1921 in der Roten Fahne abgedruckt, die Erstausgabe in Buchform erschien 1923 beim Konstanz-Seeverlag. 2 In deutscher Übersetzung wurde dieser erstmals 1925 veröffentlich. Vgl. John Lassen: Herren und Sklaven. Roman aus dem amerikanischen Arbeiterleben. Übers. von Stefan J. Klein. Leipzig-Plagwitz: Verlag Die Wölfe 1925. 3 Sandkorn im Sturm erschien zwischen 13. Mai und 15. Juni 1929 in Fortsetzungen in der Welt am Abend. Die Novelle wurde zu Lebzeiten Leitners nicht in Buchform publiziert, 1985 wurde sie erstmals zusammen mit weiteren Texten Leitners von Helga Schwarz herausgegeben. Vgl. Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzüählende Prosa, Reportagen und Berichte. Hg. von Helga Schwarz. Berlin, Weimar: Aufbau 1985. Die Träume der Märtyrer. Menschenschicksale in Ungarn und Amerika. Erzählt von Maria Leitner und Johann LékailJohn Lassen. Hg. von Helga und Wilfried Schwarz. Bodenburg: Verlag Edition AV 2020. 293 Seiten. € 19,90 Gestapoleuten zu Stasi-Mitarbeitern der DDR in Relation zu den jeweiligen Bevölkerungszahlen 1:45 beträgt.) Nichtsdestotrotz arbeiteten jene mit einer tödlichen Effizienz, die allein in Österreich Tausende von Widerstandskämpfern dem Verderben auslieferte. Die Rekrutierungsmechanismen waren unterschiedlich. Einerseits handelte es sich bei den V-Leuten um Menschen mit ausgeprägtem Vorstrafenregister, deren kriminelle Energie benutzt wurde und die bereits für den austrofaschistischen Ständestaat den linken Untergrund bespitzelten. Auf der anderen Seite waren es langjährige Parteiganger und Aktivisten jener Gruppen und Organisationen, gegen die zu arbeiten sie sich bereit erklärten. In den meisten Fällen war dabei eine Verhaftung vorangegangen und das Angebot